Krystian Woznicki on Wed, 25 Dec 2002 15:55:08 +0100 (CET)


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[rohrpost] The Thing: Kunst gegen Marke


Kunst gegen Marke

Vali Djordjevic, Netzeitung, 25. Dez.02

Dem Netzkunst-Server «The Thing» wurde zu Ende Februar die 
Internet-Verbindung gekündigt. Ein Projekt auf dem «The Thing»-Server ging 
dem Provider zu weit.

Nach einem kritischen Webprojekt, das sich mit der Rolle des Chemiekonzerns 
«Dow Chemicals» bei der Aufarbeitung des Unfalls im indischen Bhopal 
beschäftigt, flatterte einem der ältesten und renommiertesten 
Netzkunst-Server die Kündigung ins Haus. Mehr als hundert Webkunstprojekte 
und über 200 Homepages von Künstlern, Autoren und Aktivisten könnten ihre 
Heimat im Internet verlieren. Das Projekt, das sich den Unmut von «Dow 
Chemicals» zuzog, endete damit, dass der Provider «Verio Inc.» den 
Internetzugang von «The Thing» kündigte.

Am 3. Dezember 2002 zum 18. Jahrestag des Chemie-Unglücks im Bhopal wurde 
eine E-Mail verbreitet, in der der Absender «press@dow-chemical.com» 
erklärte, dass der Chemiekonzern keine Verantwortung für die Altlasten des 
Werks in Bhopal übernehmen könne, da er an seine Teilhaber und den 
Aktienkurs denken müsse. Interessierte wurden auf die Website 
dow-chemical.com verwiesen, deren Layout auf den ersten Blick dem der 
Chemiefirma glich. Erst wenn man genauer hinschaute und die Texte las, 
wurde klar, dass dies es sich um eine clever konstruierte Parodie handelte.

Dahinter steckte eine Gruppe von Künstlern und Aktivisten namens «The Yes 
Men», die schon mit anderen gefälschten Websites auf die Problematik von 
Unternehmensmacht, Globalisierung und ungebremstem Kapitalismus aufmerksam 
gemacht hatten.

Copyrightverstoß führt zur Kündigung

Das echte «Dow Chemicals» wurde schon am nächsten Tag auf die Satire 
aufmerksam und rief beim Internet-Provider von «The Thing» an, um die Site 
abschalten zu lassen. Dow berief sich in einem Anwaltsschreiben an Verio 
darauf, dass die falsche Website gegen den «Digital Millennium Copyright 
Act» verstoße, indem sie das Logo und das Corporate Design von Dow benutze, 
schrieb das Online-Magazin «Telepolis».

Innerhalb von kürzester Zeit trennte «Verio Inc.» nicht nur 
«dow-chemical.com» vom Netz ab, sondern auch alle anderen Projekte und 
Domains, die von «The Thing» gehostet werden. Von der 16-stündigen 
Abschaltung waren auch so seriöse Adressen wie das Artforum Magazin und die 
«P.S.1»-Galerie für zeitgenössische Kunst betroffen.

In der Zwischenzeit konnte «Dow Chemicals» durch einen Fehler der 
Polit-Künstler die Seite wieder in Besitz nehmen, ohne jedoch verhindern zu 
können, dass es mittlerweile Dutzende von Spiegelseiten im Internet gibt. 
«Verio Inc.» schickte im Anschluss die endgültige Kündigung des 
Provider-Vertrages an «The Thing» wegen wiederholten Verstoßes gegen die 
Geschäftsbedingungen.

Keine Freiheit der Kunst

Mit der künstlerischen Freiheit im Internet scheint es nicht weit her zu 
sein. Im Mai dieses Jahres musste im «New Museum of Contemporary Art» in 
New York ein Projekt der Künstlergruppe «Knowbotic Research», das sich mit 
Überwachung im Internet beschäftigte, während der laufenden Ausstellung aus 
dem Netz entfernt werden. Der Provider war der Ansicht, dass das Projekt 
seine Geschäftsbedingungen verletzte. Das Projekt benutzte ein Programm, 
das das Netzwerk nach verfügbaren Ports – Datenkanälen, die bestimmte 
Dienste anbieten – absuchte und diese dann visuell darstellte.

«Es ist nicht fair, dass alle unsere 300 Kunden wegen dieser Sache leiden», 
sagte Wolfgang Staehle, der Geschäftsführer von «The Thing» der New York 
Times. Auch wenn er sich sicher ist, dass er bis zum Februar einen neuen 
Provider gefunden hat, macht er sich Sorgen, dass sich seine Kunden in der 
Übergangsphase einen neuen Server suchen.

http://www.netzeitung.de/servlets/page?section=926&item=220446

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