Florian Cramer on Sun, 14 Apr 2002 13:50:06 +0200 (CEST)


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Re: [rohrpost] Re: =?iso-8859-15?Q?=5Broh?==?iso-8859-15?Q?rpost=5D__Re=3A_Kultur-Taler_f=FC?==?iso-8859-15?Q?r?= Projekte anstatt Verwalter


Am Sun, 14.Apr.2002 um 16:46:09 +1000x schrieb geert lovink:
> From: "Gerrit Gohlke" <gerrit.gohlke@gmx.de>
> 
> > "Off" ist dabei
> > inzwischen alles, was nicht den Glanz eines staatlichen Opernhauses oder
> > die sklerotische Ehrwürdigkeit eines preußischen Großmuseums ausstrahlt.
> 
> Genau. Und es ist daher nur eine Frage der Zeit wenn ein Aufstand gegen
> diese etablierte Kulturmaffia ausbricht. Ich glaube nicht (mehr) eine
> Koalition
> mit der Theater und Operwelt. Es ist eher Krieg angesagt. Zeit aufzusagen

[...]
 
> Die neue Kultur soll sich als Popkultur verstehen (deswegen hasse ich
> das Poplabel wie der Pest). Das heißt, sie soll von Anfang an nicht

Auch ich hasse das Poplabel wie die Pest, und deswegen bin ich gegen
Bekriegungen von Opernhäusern. Der Sinn staatlicher/öffentlicher
Kultursubventionen ist meiner Meinung nach, wie politisch paradox und
fragwürdig das auch immer sein mag, sperrige Kunst zu ermöglichen  (und
übrigens auch sperriges Denken an Hochschulen) und einer Öffentlichkeit
preiswert zugänglich zu machen. Sozialdemokratische oder
klassenkämpferische Argumente sind dabei hohl, es geht hier wie dort um
Luxus, Extravaganzen und Spinnerei, die sich eine Gesellschaft
gefälligst leisten sollte und aus der sich ein unmittelbarer Nutzen nur
ableiten läßt, wenn man ihn in soziologisierender Alibirhetorik und
linksprotestantischen Sonntagsreden beschwört.

Dazu gehört für mich ein Netzkunstfestival genauso wie eine
Opernaufführung von "Moses und Aaron", Zimmermanns "Soldaten", Berios
"Re in ascolto" oder, um alte Musik zu nehmen, Achim Freyers
Inszenierung von Händels "Messias" (Deutsche Oper Berlin, 1985; ja, wenn
ich Kurator eines Festivals für Neue Medien und zeitgenössische Kunst
wäre, würde ich keine Sekunde zögern, solch eine zeitgenössische Oper in
seinem Rahmen aufzuführen.  Und ich schätze auch die Freiheit,
subventioniert preußische Großmuseen zu besuchen und mir dort
Renaissance-Malerei und Caspar David Friedrich anzusehen. Wer sich
fragt, was das mit neuer Kunst und neuen Medien zu tun hat, lese Tilmans
Notiz über flämische Renaissance-Malerei als "Medienkunst" im
"Cream"-Newsletter.

Die Skandale und Skandälchen sind, wenn schlechte Kunst - ob aktueller
oder alter Provenienz - im vollen Bewußtsein ihrer Schlechtigkeit mit
Multimillionenetats durchgefüttert wird (in Berlin: das
posthoneckerianische Weltniveau-Hupfdohlentum im Friedrichsstadtpalast,
Peymanns Neue-Mitte-Spießertheater, Sasses
Altes-West-Berlin-Schloßparktheater) oder wenn dank West-Filz die
Privatsammlung eines politisch einschlägig bekannten Berliner Baulöwens
unter der Leitung seines Privatkurators mit öffentlichem Geld
hergerichtet wird und als Berlins Museum für zeitgenössische Kunst
firmiert und dank PDS-Ost-Filz jetzt mit dem an Podewil & Co.
eingesparten Geld ein Rosa Luxemburg-Reiterstandbild aufgestellt wird.

Ich kann aus der jetzigen Krise keinen Automatismus zur Schließung von
Opern ableiten. Daß sie in Berlin die Hälfte des Kulturetats fressen,
ließe sich einfach dadurch lösen, daß man (neben dem üblichen Kontingent
ermäßigter Karten) die in Berlin noch post-sozialistischen
Eintrittspreise auf das Niveau von München, Stuttgart oder
Frankfurt hebt und damit Subventionen nicht dort einsparen muß, wo
ihr Entzug tödlich ist.

Die zynische Wahrheit ist natürlich, daß man am besten sofort und
überall alle Subventionen streicht, damit mit sich alles radikal
neuerfinden muß und aus existentieller Härte Schärfe gewinnt. (Man
schaue nur nach London.)

Florian


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