Florian Cramer on Thu, 16 Jan 2003 17:25:03 +0100 (CET)


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Re: [rohrpost] Workshop Freie Software


Am Donnerstag, 16. Januar 2003 um 10:57:35 Uhr (+0100) schrieb Henning
Ziegler:
 
> FC> Mit anderen Worten (und mit Bitte um Nachsicht für die Polemik): Als
> FC> Foucaultianer und Postmarxist glaubt man nicht an Freiheit und hat
> FC> deshalb ein Problem damit, daß etwas oder jemand so frei ist, sich
> FC> "frei" zu nennen.  Wenn man ernsthaft so denkt und den Begriff vor die
> FC> Praxis stellt, dann ist die "Theorie", auf die man sich beruft, aber
> FC> keine "theoria" ("Sichtweise") mehr, sondern ein a priori und Dogma bar
> FC> jeder bloßen _Bereitschaft_, sie durch Anschauung von etwas, dessen
> FC> Beschreibung sie verfehlt, zu berichtigen.
> 
> Damit hat man überhaupt kein Problem, da diese Aussage toujours déjà
> kulturell beeinflusst ist und somit genau ins Erklärungsmodell einer
> linken Kultur-, Politikwissenschaft oder Soziologie passt. 

Prima, was also war dann Dein Problem mit dem Begriff "Freie Software"? 

> (Was ja nebenbei auch das Problem von Rorty oder Habermas ist: Eine
> neutrale Position ist immer auch subjektiv in ihrer Neutralität, also
> auch ein Dogma. Alter Hut, das.)

Weshalb ist Subjektivität a priori dogmatisch? Würde man jede Anschauung
(aiesthesis) für so stark kulturell vorgeprägt erachten, daß sie
gleichbedeutend mit einer Setzung sei, dann würde man "Kultur" ja selbst
zu einem unhinterfragbaren metaphysischen Zentrum machen. 

> Anscheinend hast du auch den alten Vorwurf an Butler, sie müsse an
> historischen Beispielen ihre Theorie "beweisen." 

Wo schreibe ich das? Wo schreibe ich überhaupt etwas gegen Butler? Ich
schreibe nur etwas gegen eine dogmatische Auslegung von Foucault, Butler
und Co..
 
> Richtig, man muss das nicht. In Deutschland gibt es aber doch (im
> Gegensatz zum libertären US-Amerika) zahlreiche Beispiele für Leute,
> die freie Software "frei" finden, der von dir zitierte Volker ebenso
> wie etwa Stefan Meretz oder die Oekonuxer. 

Klar. Allerdings wäre eine Identifikation des "Oekonux"-Diskurses mit
Freier Software sehr verwegen. Der Anteil Freier Software-Entwickler
(und Aktivisten in Freie Software-Usergroups) bei Oekonux dürfte gegen
Null gehen und umgekehrt. Es gibt nicht einmal eine Präsenz von Oekonux
in Diskursen Freier Software-Entwickler. Selbst die Annahme, Oekonux
repräsentiere in irgendeiner Form einen _deutschen_ Diskurs Freier
Software ist nicht haltbar, wenn man bedenkt, daß in kaum einem anderen
Land soviel Freie Software entwickelt wird wie in Deutschland und große
Projekte wie KDE und XFree86 hier ihren Ursprung haben.

> Auch Alvar redete von _seiner_ Entscheidung für freie Software.  Im
> krassen Gegensatz dazu steht deren Verbreitung auf Workstations. An
> diesem Problem sind doch auf politischer Ebene schon die 68er
> gescheitert: Warum hat keiner Lust auf die Revolution?

Diesen Kausalzusammenhang mußt Du mir erst einmal erklären. Ich z.B. bin
jemand mit wenig Lust auf die 68er-Revolution und großer Lust an Freier
Software wie z.B. dem vim-Editor, mit dem ich gerade diese Zeilen hier
schreibe. 

Ich glaube aber, Dich allmählich zu verstehen: Daß Du als
Oekonux-Geschädigter "Freie Software" als ein politisches Opt-In-Modell,
eine Art Gesellschaftsvertrag eines linken Humanismus ansiehst, den man
- völlig d'accord - nicht unbedingt mag oder zumindest nicht zwangsweise
unterschreiben will. Ebensowenig willst Du, als linker Postmarxist,
Dir von anderen vorschreiben lassen, welche Computersoftware Du zu
benutzen hast. Auch d'accord, obwohl ich darin wiederum eine
uneingestandene Berufung auf die Idee der "Freiheit" sehe.

> Ist alles _doch_ nicht so schlecht? Würdest du das biologisch oder
> pragmatisch erklären? 

Meine Nutzung Unix-artiger Betriebssysteme folgt höchst pragmatischen
Motiven, ebenso meine Nicht-Nutzung von proprietären Betriebssystemen.
Ich nehme an, Windows-Nutzer sehen es auf ihre Weise genauso. Deshalb,
und damit kommen wir auf die Ursprungsdiskussion zurück, ist es sinnlos,
solche Leute zu freien Betriebssystemen bekehren zu wollen.

> Ist eben unbequemer, die freie Software? 

Das kommt auf das Einsatzgebiet und die eigene Arbeitsweise an.  Für die
einen Nutzer ist eine selbsterklärende Anklick-Oberfläche bequemer, für
die anderen, die Möglichkeit, alle repetitiven Arbeitsabläufe durch
Pipes und Skripte zu automatisieren, für Datenbankserver keine Lizenzen
kaufen zu müssen, die auf CPU- und Nutzerzahlen limitiert sind, etc..
Wenn die Freie Unices [auf meinen Rechnern: Debian, NetBSD und Minix]
für mich nicht bequemer wäre, würde ich sie auch nicht nutzen.  

> Die Rede von der Freiheit im Bezug auf Software und Technik steht auf
> einer Seite mit Apples oder AOLs Einfachkeits- und Freiheitsslogans.
> Es gilt sie daher kritisch zu hinterfragen.

Auch das mußt Du mir erklären. "Freiheit" hat doch nichts mit
"Einfachheit" zu tun, und daß AOL jemals mit "Freiheit" geworben hätte,
wäre mir neu. 

Das Beispiel AOL ist übrigens insofern gut, als wir uns hier eine
Neuauflage der Debatte von Anfang/Mitte der 1990er Jahre über das
nichtproprietäre Internet versus proprietäre Onlinedienste wie AOL,
Compuserve und das damalige Btx/T-Online liefern, mit austauschbaren
Argumenten. 

Gruß,

-F

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