Maria Schmucker on Wed, 11 Sep 2002 14:23:16 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Klaus Theweleit über den 11. September


Bilder vom Einsturz der Welt 

Über die Liveschaltungen der Fernsehkanäle stellten 
die Attentäter vom 11. September eine Verbindung zu 
den Hirnen der Zuschauer auf der ganzen Welt her. 
Der Ort des Anschlags war nicht allein New York -
er geschah in unseren Wohnzimmern! 

von KLAUS THEWELEIT

Wenn Bilder nur Abbilder wären, mediale 
Wiedergaben einer real existierenden Dingwelt und 
nicht eine Realität für sich selbst, hätte die 
Welt am Fernseher die zusammenbrechenden Türme 
nicht wirklich gesehen, sondern nur als Abbildung 
eines in New York geschehenen Realen. Zutreffend 
ist etwas anderes: Die Augenzeugen des Crashs der 
Türme in New York haben etwas anderes gesehen als 
die Menschen der Welt an den Fernsehschirmen, aber 
beide etwas vollkommen Reales. Das Mitgefühl, das 
fast alle Staatschefs der Welt spontan den 
Amerikanern, den Opfern wie der Regierung, 
aussprachen, war eine Reaktion auf die 
Fernsehbilder. Es war deren kühl kalkulierte 
Eindringlichkeit, die überlegte und überlegene 
"Inszenierung" des Unvorstellbaren, die etwa 
Norman Mailer dazu brachte, dem Anschlag außer 
Monstrosität "Brillanz" zu attestieren; und die 
Karlheinz Stockhausen dazu verleitete, die Bilder 
vom Anflug und Einschlag der Flugzeuge gleich ganz 
als Kunstwerke aufzufassen und als solche zu 
bewundern.

Die Reaktion der Staatschefs, die Reaktion Fidel 
Castros, vor dem Fernseher stehend - denn man 
setzt sich nicht beim ersten Anblick des 
Ungeheuren -, wie auch die Reaktionen aller 
"normalen" Fernsehzuschauer hatten genau den 
gleichen Grund: Entsetzen und ungläubige 
Bewunderung für die bildliche Souveränität dieses 
Terrorakts, der in seiner medialen 
Hyperkonstruiertheit als Nie-Gesehenes in die 
Augen fuhr, ins Hirn sich einbrannte und ins Herz: 
im gleichzeitigen schneidenden Wissen, dass dort 
soeben tausende Menschen in der Schmelzhitze der 
Kerosinexplosion verglüht waren, eingeäschert.

Kommentatoren, die erschreckt die Filme 
auflisteten, in denen sie Ähnliches oder sogar 
Gleiches bereits gesehen hatten, wussten meist 
nicht und sind bis heute eher ratlos, was diese 
Listen eigentlich sagen oder bedeuten. Was 
vielmehr alle sahen, wo sie sich auch befanden, 
waren Bilder, die sie noch nie gesehen hatten, und 
die alle überforderten. Im TV waren es Bilder 
höchst intensiver Realität. Sie warfen die 
Aufnahmeinstanzen des Hirns über den Haufen, wie 
sie auch die politischen Lager für den Moment 
auflösten. Nicht nur die Verbündeten, sondern alle 
Staatschefs sprachen ihr Mitgefühl aus - bis auf 
Saddam Hussein, der seine Gründe hat.

Die Menschen, die in New York die Einschläge und 
den Einsturz der Türme von der Straße aus sahen, 
sahen im Vergleich dazu etwas ganz anderes, sie 
hörten und rochen auch etwas ganz anderes: Feuer, 
Rauch, Lärm, Schreie, Tränen, unentscheidbar, ob 
es sich um den Einsturz der Türme handelte oder 
den Einsturz der Welt. Sie sahen nicht die klaren 
Bilder der Kameras "über den Dächern von New 
York", die brennenden Türme in der Silhouette 
Manhattans, sie wussten zu einem großen Teil nicht 
einmal, was passiert war.

Keineswegs sahen die Augenzeugen in New York die 
Realität des Einsturzes, sie sahen eine andere 
Realität als die an den Schirmen, und sie 
reagierten anders auf sie. Und keineswegs löscht 
oder übertrumpft diese Realität die Realität des 
Einschlags in Augen und Hirne der Menschen am 
Fernseher: Das belegen gerade die spontanen Sätze: 
"Nichts wird mehr sein, wie es vorher war", und 
"Hiermit hat das 21. Jahrhundert begonnen"; sie 
sind klare Resultate des Fernsehbilds, formuliert 
und geteilt von einer Mehrheit der TV-Seher. Eine 
bestimmte Qualität des Fernsehbildes muss sie 
erzeugt haben; sie entstanden am Fernseher und 
führten zu der von vielen Zuschauern beschriebenen 
"Sucht", die Bilder vom Einschlag und Einsturz 
wieder und wieder anzusehen. Als Schwellenbilder 
zum Eintritt in das neue Jahrtausend.

Was alles einbrach. Ein älterer Freund, jahrelang 
mit Alkoholproblemen befasst und nun trocken, 
berichtet, er habe im Trockenwerden mühsam ein 
inneres Gerüst aufgerichtet, eine Art Korsett, an 
dem sich sein neues Leben stabilisiert. Es sei 
aber sehr labil; man trinkt zwanzig Jahre keinen 
Tropfen und arbeitet doch ständig an der Sucht. 
Und schützt das Gerüst und baut es aus in dem, was 
man täglich sagt, denkt und tut. Beim Crash des 
zweiten Turms des World Trade Center sei dies 
Gerüst in ihm zusammengebrochen, sagt er, lautlos 
und in großer Staubwolke; er habe das Gefühl 
gehabt, die Welt verliere ihr Gerüst und breche 
zusammen.

Ähnlich persönlich getroffen habe ich eine ganze 
Reihe von Leuten erlebt, Jugendliche, denen die 
World-Trade-Center-Türme als Wahrzeichen eigener 
hochfliegender Amerikaträume tiefer in die eigene 
Psyche gegraben sind als die Freiheitsstatue. 
Leute jeden Alters und Geschlechts konnten sich 
ähnlich äußern, ohne dass deswegen ihre politische 
Urteilskraft ausgesetzt hätte; ohne dass die 
besonderen Arten ihres Getroffenseins ihr 
Mitgefühl mit den Opfern behindert oder sie sich 
gar mit diesen verwechselt hätten. Wir 
funktionieren längst auf den Schienen 
verschiedener Parallelrealitäten, zwischen denen 
wir hin- und hergehen oder auch "schalten" können. 
Unsere psychischen Apparate und unsere 
Denkapparate arbeiten längst schon in solcher 
Multiplität. Keine dieser Realitäten ist 
prinzipiell realer oder auch irrealer als eine 
andere. Sie existieren allerdings in Graden 
verschiedener Intensität; manche sind bedeutender, 
andere unwichtiger, das differiert von Person zu 
Person. Was man im Kino sah, liegt in völlig 
verschiedener Gewichtung vor in den Einzelnen; es 
ist aber nicht irrealer oder gar "illusionärer" 
als das, was in New York passierte. Oder als das, 
was in Attas, des Attentäters, Hamburger 
Studentenzimmer passierte, oder als das, was die 
Einzelnen, Fidel Castro, Sie, ich oder der Freund 
mit dem inneren Gerüst am Fernseher sahen.

Der Fernseher wirkte wie ein Bildverstärker in 
diesem Fall. Man begriff, dass die 
Durchschlagskraft der Fernsehbilder vom Crash 
nicht zufällig war, sondern eine absichtsvoll 
produzierte. Man "begriff" sofort, wie Absichten 
und Ziele des Anschlags ihren perfekten bildlichen 
Ausdruck gesucht und gefunden hatten; ein Umstand, 
der viele von "Inszenierung" sprechen ließ, von 
einem quasi-"artistischen" Ereignis. Man 
"begriff": Die Flugzeuge waren zu 
unterschiedlichen Zeitpunkten gekapert worden, um 
zeitversetzt in die Türme zu rasen. Wissend, die 
Kameras aller Stationen und aller Privatmenschen 
auf den Dächern und in höheren Stockwerken würden 
auf das Unglück in Turm eins gerichtet sein, wenn 
der zweite Jumbo in Turm zwei raste: den Vorgang 
als geplanten Mordanschlag enthüllend. Ungewollt 
live zugeschaltet zur spektakulär ausgestellten 
Ermordung tausender. Fieser und effektiver ist man 
noch nie als TV-Zuschauer zum Teilnehmer eines 
medialen Mordtheaters gemacht worden. Gleichzeitig 
informiert über die Parallelaktion am Pentagon; 
und teilinformiert über das vierte Flugzeug, das 
abgestürzte, dessen potenzielle Ziele sich jeder 
am TV gleich selbst ausmalte: Weißes Haus oder AKW 
Harrisburgh. Effektiver haben noch nie Terroristen 
mit "unseren Köpfen" gedacht; die TV-Zuschauer 
gezwungen, selbst die Ziele des Terrors 
anzuvisieren, die sie gewählt hätten, wären sie an 
Stelle der Terroristen. Der größte gewählte 
Schrecken, Harrisburgh, erwies sich später als die 
zutreffendste "Wahl". Harrisburgh hätte es sein 
sollen. Womit die Inszenatoren des Attentats vom 
11. September auch noch den Schrecken von 
Tschernobyl eingebaut hätten; ein Gesamtattentat 
im Götterdämmerungssinn. Zudem unüberbietbar im 
Symbolischen; es sei denn, die Amerikaner 
bombardierten die Kaaba in Mekka. Es bleibt einem 
gar nichts übrig, als auch diese drei "Ebenen", 
die des Massakers an "Stellvertretenden", die des 
religiösen Selbstopfers und die der Abrasur eines 
Großsymbols, als gleich real und gleich wirksam zu 
betrachten.

Die Reaktion der Welt auf diese im Fernsehbild 
höchst vereinten und exakt sichtbar gemachten 
verschiedenen Seiten des Anschlags hat dies auch 
genau gezeigt. Es wurde begriffen, dass dies der 
seltene (und vielleicht erstmalige) Moment war, in 
dem die verschiedenen Realitätssegmente eines 
weltbewegenden Ereignisses erstmals am besten in 
einem Fernsehbild zu sehen waren. Verdichteter und 
genauer als am Ort des Geschehens selbst. Oder, 
noch genauer: Der Ort des Geschehens war nicht 
allein New York und die Türme des World Trade 
Centers, Washington und das Pentagon, sondern der 
TV-Bildschirm, mit dem wir zusammengekoppelt waren 
durch die Liveschaltung, die die Attentäter durch 
ihr Timing und die ganze Anlage dieses 
Großattentats mit uns, den Hirnen der 
Fernsehzuschauer der Welt hergestellt hatten. 
Dieses Attentat geschah bei uns zu Hause, 
unabweisbar, und die sensibleren Leute reagierten 
darauf. Nicht nur mit dem Gedanken, dass dies das 
Ende der Unverletzlichkeitsfantasie sei, mit der 
Amerika und die westliche Welt sich seit 
Jahrzehnten gegen das zunehmend bedrohliche 
Drittweltwesen und andere Aliens immunisieren; 
sondern in der Gewissheit, selbst getroffen worden 
zu sein in den eigenen, persönlichen Sicherungs-, 
Abwehr- und Immunsystemen verschiedenster Art. Die 
sonstige Gewissheit, vom laufenden "Weltprozess" 
letztendlich doch nicht substanziell betroffen zu 
sein, verglühte mit den Ermordeten des Attentats 
von New York. Denn auch körperlich hätte man 
selbst an Stelle eines der Toten sein können; eine 
Frage des Zufalls, wann man selbst auf den Türmen 
stand. Das touristische Innenleben der 
Westweltstaaten rückte auf die Liste möglicher 
terroristischer Ziele; das trifft tief, denn nur 
eines sind wir wirklich alle: Weltreisende.

Zu Recht ist bemerkt worden, dass ein Anschlag 
aufs Pentagon allein diese Folge niemals gehabt 
hätte. Er wäre verbucht worden als kriegerischer 
Akt eines besonderen frechen Kalibers; niemand 
aber hätte "das 21. Jahrhundert" damit wirklich 
anfangen sehen. Dies blieb den Fernsehbildern vom 
WTC-Crash vorbehalten, den Bildern, nicht dem 
Einschlag selbst.

Was die Einzelnen und die westliche Öffentlichkeit 
so nachweislich stark getroffen hat, war nicht der 
Vorfall an den Hochhäusern, es war der Vorfall 
unserer Koppelung mit dem TV-Schirm in einer 
mörderischen Liveschaltung, die uns die Basis 
unserer politischen wie persönlichen Immunsysteme 
entzog; die Schaltung, die uns zu Teilnehmern 
dieser Großinszenierung eines Mordspektakels 
machte; die hoch aufgeladene Realität einer TV-
Schaltung, die wir sonst, in läppischen Big-
Brother-Shows als Reality TV unter Kontrolle zu 
haben glauben, in leichtfertiger 
Immunisierungsgewissheit.


Die ungekürzte Fassung dieses Textes erscheint am 
17. 9. in Klaus Theweleits neuem Buch "Der Knall -
11. September, das Verschwinden der Realität und 
ein Kriegsmodell" (Verlag Stroemfeld/Roter Stern)


http://www.taz.de/pt/2002/09/11/a0108.nf/text

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