Tilman Baumgaertel on Thu, 20 Jun 2002 16:11:12 +0200 (CEST)


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az 20.6.2002 Das Sterben der Mailboxen 

Das Sterben der Mailboxen

Das letzte Netzwerk der Friedensaktivisten im ehemaligen Jugoslawien steht
vor dem finanziellen Ende: Die EU und die internationalen
Hilfsorganisationen wollen nicht mehr dafür bezahlen

von ROLAND HOFWILER

Was waren das für Zeiten! Der Krieg um das ehemalige Jugoslawien tobte auch
im Internet. Hacker und Politiker führten im Netz eine Propagandaschlacht
nach der anderen. Und manch dubiose Gruppe brachte sich in die
Schlagzeilen, wie etwa die "Schwarze Hand". 1914 ging auf das Konto dieses
serbischen Geheimbundes die Ermordung des österreichischen Thronfolgers
Franz Ferdinand, 1998 gaben sich Computer-Hacker diesen Namen, die mit
unsichtbarer Hand in die Nato- Werbeabteilung eindrangen, in eine
US-Regierungsseite und ein Forschungsprojekt der amerikanischen Marine.
Andere Hacker knüpften sich danach die Serben vor, andere wiederum die
Albaner.

Das ist lange her. Es herrscht Frieden auf dem Balkan, und auf den
Webseiten der Kommerz. Alles was einst politisch war, ist nahezu
verschwunden. Die legendären Internet-Zirkel wie "Za-Mir"
(www.peacenet.org/balkans) oder die der niederländischen
Experimentiergruppe "xs4all", die ungezählten kleinen Friedensgrüppchen aus
Serbien, Bosnien, Kroatien und Albanien die Webseiten aufbereiteten
(domovina.xs4all.nl/bcs/), haben sich aus den großen Datenbahnen des
Internets verabschiedet. Die albanischen Sammelhomepages (www.albanian.com
und www. kosovapress.com) und das serbische Multimediaprojekt B-92
(www.b92.net) sind längst ohne Biss. Und das letzte noch intakte Netzwerk,
die Alternativna Informativna Mreza, kurz AIM, (www.aimpress.org) steht nun
vor dem Aus. Die Europäische Union und internationale Hilfsorganisationen
wollen kein Geld mehr in das Projekt stecken, das 1992 vom Europäischen
Bürgerforum, einem Ableger der in den 70er-Jahren in Südfrankreich
gegründeten Landkommune Longo Mai, ins Leben gerufen wurde. Zum Jahresende
soll das in seiner Art einzigartige Balkan-Netzwerk abgedreht werden.

Letztes Netzwerk

Im Unterschied zu anderen Hilfsorganisationen im Medienbereich begnügt sich
AIM mit einem Minimum an Verwaltungsaufwand. Es existiert nicht einmal eine
flache Hierarchie, sondern gar keine. Sowohl die in Paris ansässige
Koordinatorin wie auch der Generalsekretär beschränken sich auf
administrative Aufgaben.

Stand während des blutigen Krieges der Kampf gegen nationalistische Hetze
und Fanatismus im Vordergrund, ist es heute die mediale Verständigung über
die neu gezogenen Grenzen auf dem Balkan hinweg. Da sich die meisten der
unabhängigen Medien in den Nachfolgestaaten des untergegangenen Jugoslawien
kein eigenes Korrespondentennetz leisten können, brauchen sie ein
gemeinsames Informationsnetzwerk. Diese Aufgabe übernimmt AIM, das
unentgeltlich Berichte und Analysen an eine Vielzahl von Zeitungen auf dem
ganzen Balkan weiterleitet, aber auch gleichzeitig alles für jedermann im
Internet frei zugänglich hält. Zum Erstaunen der AIM- Betreiber übernimmt
selbst manch Regierungsblatt und manch nationalistische Postille mehrmals
wöchentlich Artikel aus dem reichhaltigen Angebot der ehemaligen Aktivisten
der Antikriegsbewegung.

Tag für Tag produzieren die Redaktionsstuben in Banja Luka, Belgrad,
Ljubljana, Podgorica, Prishtina, Sarajevo, Skopje, Sofia, Tirana und Zagreb
Texte, die sich sehen lassen können, aber auch ihren Preis kosten: Das
Konzept verschlingt an die 800.000 Euro im Jahr, eben zu viel Geld aus
Sicht der Brüsseler Bürokraten. Sieben Jahre nach Ende des Bosnienkrieges
und drei Jahre nach Befriedung des Kosovo ist ein massiver Rückgang
internationaler Hilfsgelder für alle gesellschaftlichen Bereiche zu
beobachten. Von Suppenküchen für Arme über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für
Jugendliche und schulischen Projekten bis hin zu Internetcafés: einer
Initiative nach der anderen wird der Geldhahn zugedreht.

Veteranentreffen

Die politische Funktion des Internets für die Balkanregion gehört so der
Vergangenheit an. Nur noch auf inaktuellen Websites kann der Interessierte
nachlesen, wie es einst zur Gegenöffentlichkeit kam, aktuelle Diskussionen
fehlen: Mit Ausbruch der ersten nationalistischen Provokationen bildeten
sich überall im Vielvölkerstaat kleine "Für-Frieden"-Kreise (auf
südslawisch "za mir"), die über E-Mail und Newsgroups eine
Gegenöffentlichkeit zu schaffen suchten. Telefone und Faxverbindungen waren
im Laufe von Kampfhandlungen vielerorts zusammengebrochen. Mit teilweise
schwachen Rechnern und einfachen Mailprogrammen wurde das Netzwerk der
Mailboxen aufgebaut, manchmal nur mit minutenlangen Logins ausgerüstet, in
Extremfällen lief der Datenaustausch gar nur über Funkamateurfrequenzen
unter 300 Bit-Raten pro Sekunde. Alles bewegte sich abseits des World Wide
Web, ohne FTP-Protokoll oder IRC-Chat. Zamir galt als Alternative zum Hass
der Radio- und Fernsehstationen, als Vermittler von Augenzeugenberichten
anstelle von Propagandatexten in den Printmedien.

Die Akteure von einst haben sich längst zurückgezogen oder gingen in die
westliche Immigration. Vor Ort gibt es so gut wie keine Möglichkeit, im
Computerbereich Arbeit zu finden. Von einst 5.000 Mailbox-Standorten, über
die bis zu 2.000 Gruppen und Einzelpersonen miteinander verbunden waren,
existieren heute nur noch private Maillisten, über die sich die Veteranen
über die alten Zeiten unterhalten. Die Aktivisten der legendären
Bionic-Mailbox in Bielefeld haben sich längst neuen Projekten verschrieben,
im Glauben, die Balkanesen würden ihre gewonnene Medienfreiheit selbst zu
verteidigen wissen.

hofwiler@taz.de

taz Nr. 6779 vom 20.6.2002, Seite 14, 184 TAZ-Bericht ROLAND HOFWILER

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