Tilman Baumgaertel on Thu, 28 Mar 2002 13:01:09 +0100 (CET)


[Date Prev] [Date Next] [Thread Prev] [Thread Next] [Date Index] [Thread Index]

[rohrpost] Bootlegs


http://www.taz.de/pt/2002/03/28/a0139.nf/textdruck

Die fröhlichen Collagisten

Remix it, Baby: Die neue Musiksoftware macht es möglich - nehme zwei, drei
alte Hits, kombiniere sie miteinander und schon hast du einen neuen Song.
Das Ganze ist fast schon obszön einfach. Aus Dilettanten werden
Kinderzimmerproduzenten, die Bootleg- und Bastard-Pop-Szene boomt wie
nichts Gutes

von TILMAN BAUMGÄRTEL

Ein etwas zäher Abend im Ostgut, einem Club in Berlin. Der DJ spielt seit
einer halben Stunde Stücke mit demselben stampfenden Rhythmus; zwischen
einem Track und dem nächsten ist kaum ein Unterschied. Etwas lustlos bewegt
sich die Menge auf der Tanzfläche zu den monotonen Klängen.

Doch plötzlich schält sich aus den hämmernden Sounds ein eleganter,
elektronischer Beat heraus, pulsierend und kalt funkelnd wie der
Polarstern. Der Track klingt gleichzeitig vertraut und aufregend neu. Ist
das nicht …? Das klingt doch wie …?

Doch noch bevor der Hörer das Stück "Numbers" von Kraftwerk erkannt hat,
jauchzt im Hintergrund eine Frauenstimme auf, die in diesem Stück
eigentlich nichts verloren hat. Ihr Summen und Singen wird lauter und
klarer, geht plötzlich in eine ebenfalls vertraute Melodie über. Es ist "I
wanna dance with somebody who loves me", gesungen von Whitney Houston.

Ist das ein Remix? Lässt der DJ zwei Platten gleichzeitig laufen? Den
Tänzern im Ostgut ists egal. Es ist, als wäre plötzlich aus der Decke eine
Discokugel heruntergefahren, die die Tanzfläche in ihr flackerndes Licht
taucht. Die vorher etwas lustlose Menge ist wie ausgewechselt.

Das Stück, das aus einem lauen Abend für einige Minuten ein Fest gemacht
hat, heißt "I wanna dance with numbers". Es stammt von einem gesichtslosen
Studioprojekt namens Girls on Top, hinter dem ein genauso gesichtsloser
Tüftler namens Rich X steht. Auf dem Cover seiner Platte ist nicht er
selbst zu sehen, sondern die vier Kraftwerk-Roboter, über deren Gesichter
ein Porträt von Whitney Houston geklebt ist.

"I wanna dance with numbers" gehört zu einem neuen Subgenre der
elektronischen Musik, das sich "Bastard Pop" oder "Bootlegs" nennt, oft ist
auch von "Do-it-yourself-Remixen" die Rede. Doch wie immer man es nennen
mag: "Booties" sind Songs, die aus Songs bestehen. Meist sind diese Tracks
aus zwei, maximal drei anderen Songs zusammengesetzt - und je größer die
Fallhöhe zwischen den verschiedenen Bestandteilen, umso besser. Dann trifft
sich "Bring the noise" von der Agit-Rap-Formation Public Enemy mit Dexys
Midnight Runners "Come on Eileen" zu einem postmodernen Soundclash. "Die
besten Bootlegs sind wie Autounfälle", schreibt der englische Musikkritiker
Pete Baran. "Meist abscheulich, aber auch von einer seltsamen Faszination."

Die meisten dieser musikalischen Karambolagen werden von Produzenten mit
Pseudonymen wie Freelance Hellraiser oder Cassette Boy hergestellt. Die
Klarnamen der Produzenten herauszubekommen ist schwieriger, als ihre
E-Mail- Adresse in Erfahrung zu bringen. Denn Anonymität ist wichtig, wenn
man Musik macht, die ausschließlich aus geklautem "urheberrechtlich
geschütztem Material" (wie es im Musikbusiness-Jargon heißt) besteht und
wegen der die Rechtsabteilung jeder Plattenfirma kollektiv in Ohnmacht
fallen würde - wenn sie nur davon wüsste. Denn von wenigen Ausnahmen
abgesehen kursieren diese Stücke fast ausschließlich als MP3-Dateien im
Internet: Auf obskuren Websites, die oft über Nacht verschwinden, weil der
Provider Angst bekommen hat, wegen Verstößen gegen das Urheberrecht belangt
zu werden.

Denn natürlich hat niemand jemals die Rechte für die Songs erworben, die er
am Computer miteinander verkuppelt. Die meisten Bootlegger sind
Amateurmusiker, viele von ihnen Teenager. Der namenlose Betreiber der
Website "Boomselection", die einen guten Überblick über die
Bootlegger-Szene bietet, brüstete sich vor kurzem damit, endlich fünfzehn
geworden zu sein.

Im trendbewussten Großbritannien, wo die meisten Bootlegs produziert
werden, kommt zurzeit kein Musik- oder Lifestyle-Magazin an dem Thema
vorbei. Die Veranstaltung "King of the boots" in London, bei der jeden
Monat Bootlegger ihre neuesten Produktionen vorstellen, muss regelmäßig
wegen Überfüllung geschlossen werden.

Rich X von Girls on Top hat nach seinem Überraschungserfolg mit "I wanna
dance with numbers" bereits einen Plattenvertrag mit Virgin abgeschlossen.
Die Plattenfirma will nun für ihn die Rechte an jedem Song klären, den er
bearbeiten will. Und bei der Verleihung der Musikpreise Brit Awards ist im
vergangenen Monat zum ersten Mal ein Stückchen Bastard Pop im Mainstream
gesichtet worden: Kylie Minogue präsentierte eine Version ihres Hits "Cant
get you out of my head", die mit New Orders "Blue Monday" verschnitten war.
Die Version soll auf der B-Seite von Kylie Minogues nächster Single
erscheinen.

Natürlich, derartige Cut-ups von verschiedenen Songs gibt es nicht erst
seit den Bootlegs. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben verschiedene
E-Musik-Komponisten mit Klangcollagen aus Fremdmaterial
herumexperimentiert; John Cages "Cartridge Music" bestand ebenfalls
ausschließlich aus am Plattenspieler manipulierten Songs.

In der Popmusik tauchte dieses Verfahren in den Siebzigerjahren im sich
entwickelnden HipHop auf: New Yorker DJ- Größen wie Afrika Bambaataa,
Grandmaster Flash and DJ Kool Herc kombinierten beim Auflegen Material aus
den verschiedensten Songs miteinander, um den Sprechgesang der Rapper zu
begleiten. So bekam etwa der Basslauf von Chics "Good Times" quasi ewiges
Leben: Er bildete die Grundlage des ersten, weltweiten Raphits "Rappers
Delight" und taucht noch heute regelmäßig bei HipHop-Produktionen auf.

Ab Mitte der Achtzigerjahre wurde die Methode, Musik aus der Musik von
anderen zusammenzustückeln, durch eine technische Innovation erleichtert:
durch die ersten bezahlbaren digitalen Sampler, mit denen man Stückchen aus
den Stücken anderer zu eigenen Tracks zusammenbasteln konnte. Das Stück "I
know you got soul" von Eric B. und Raakim war einer der ersten
Sampling-Hits: Ein Song, der unter anderem aus Fitzelchen von "I want you
back" der Jackson 5, Schreien von James Brown und einem jemenitischen
Schlager von Ofra Haza zusammengeschustert worden war. Steinski, Coldcut,
KLF und S-Express schneiderten mit dieser Methode einige kurzlebige Hits
zusammen. Auf der experimentelleren Seite, die mehr an politischen und
ästhetischen Aspekten von Plagiat und Rekontextualisierung interessiert
war, standen "Plunderphonics"-Gruppen wie Negativeland oder die Tape Beatles.

Bis heute werden viele House- oder HipHop-Songs um ein Sample aus einem
alten Song entwickelt, und auch ein Pop- Hit wie "Supreme" von Robbie
Williams bedient sich großzügig bei den Arrangements von Gloria Gaynors "I
will survive". Methodisch ist das nicht allzu fern von den Bootlegs. Der
Unterschied liegt in der Ausführung: Während an dem Robbie- Williams-Song
oder an einem durchschnittlichen House-Track Hunderte Stunden lang
herumgetüfelt worden ist, sind die meisten Bootlegs roh zusammengehauene
Kombinationen, die "man schneller gemacht als aus dem Internet hergeladen
hat", wie es auf einer Website zum Thema Bootlegs heißt.

Bootlegs wären ohne MP3s von Musiktauschbörsen wie Morpheus oder Kazaa und
Shareware-Software wohl nicht entstanden. Mit Hilfe von Programmen wie der
Musiksoftware Acid ist es nicht schwierig, an einem ganz normalen
Heimcomputer zwei Stücke so aneinander zu legen, dass sie klingen, als
seien sie füreinander gemacht worden. Das Programm, das für 150 Mark auch
in Deutschland verkauft wird und auf jedem Pentium-Rechner läuft, passt
Tonhöhe und Geschwindigkeit der verschiedenen Tracks automatisch aneinander
an. "Mit Acid ist es fast schon obszön einfach, Musik zu machen", schrieb
das Musician Magazin in einer Kritik des Programms. Was vorher nur
fingerfertigen DJs oder geduldigen Studiobastlern gelang, erledigt dieses
Programm von selbst: die Synchronisation von zwei verschiedenen Tracks.

Das klingt vielleicht nicht ganz so glatt wie eine Robbie-Williams-Single,
aber gerade in der Rauheit und in der holprigen Direktheit besteht auch der
Reiz des Bastard-Pops. Als Produktionsmethode erinnert es an die legendäre
Anweisung aus einem Punk-Fanzine der Siebzigerjahre, drei Akkorde auf der
Gitarre zu lernen und eine Band zu gründen. Auch die ultraknappen,
nonchalanten Songtitel (meist nicht mehr als "Eminem vs. Britney") sind
geprägt von einer punkigen Rotzigkeit und Verweigerungshaltung.

Wie der frühe Punk, aber auch wie die ersten Sample-Rave-Hymnen aus den
Achtzigerjahren feiern die Booties den "Do-it-yourself"-Aspekt von
Popmusik. Es ist eine Musik von Dilettanten und Nichtmusikern, von
Konsumenten, die zu Kinderzimmerproduzenten geworden sind. Und es sind
genau zuhörende Konsumenten: In ihren feinsten Momenten werfen Bootlegs ein
anderes Licht auf einen spezifischen Aspekt eines Stücks. Sie haben an
einem Track etwas bemerkt, was noch niemandem aufgefallen ist, und das
kitzeln sie heraus.

Letztlich ist der historische Urgrund für all diese Praktiken in der
Popmusik natürlich das Prinzip der Collage, eine Entdeckung der
modernistischen Avantgarde. In etwas slackerhaftem Understatement erläutert
das Internet-Fanzine World Pop: "Die naheliegendste Referenz, wenn wir euch
mal etwas prätentiös kommen dürfen, ist - hüstel hüstel - Marcel Duchamp.
Ihr wisst schon, dass man etwas Neues und Schönes schafft, indem man
vorgefundenes Material miteinander kombiniert …" Die Konfrontation von
verschiedenen Songs schlägt in ihren besten Momenten nach wie vor so helle
intellektuelle Funken, wie es sich die collagierenden Dadaisten und
Konstruktivisten zu Beginn unseres Jahrhunderts gewünscht haben.

Gleichzeitig spielt sie mit einem unendlich verfeinerten abrufbaren Wissen
über Popkultur, von dem man vor dreißig Jahren zu Beginn der Postmoderne
nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Während es in einer gar nicht so
fernen Zeit genügte, Popstilen durch Zitat eine Reverenz zu erweisen, muss
es nun schon eine so vergleichsweise delikate Kombination wie das
Zusammentreffen von TLC und Human League (Girls on Top: "Being Scrubbed")
sein, um die Sinne der Pop-Connaisseure überhaupt noch zu reizen.

Der Preis dafür ist natürlich immer das Risiko juristischer
Schwierigkeiten. Rich X: "Ich wollte mit ,I wanna dance with numbers' ein
Stück machen, das vollkommen illegal ist." Bei HipHop-Alben wie denen von
Dr. Dre sind inzwischen halbe Anwaltskanzleien damit beschäftigt, die
Copyrights für bestimmte Bassläufe oder Drumpatterns zu erwerben.

Rich X glaubt allerdings, dass er den Musikern, deren Songs er als
Rohmaterial verwendet, finanziell nicht geschadet hat: "Bei den acht Songs,
die ich verwendet habe, fanden es vier der Bands toll. Das Geld, das ihnen
dadurch entgangen ist, entspricht etwa dem Preis eines Happy Meals bei
McDonalds."


Bootlegs im Internet: www.boomselection.n3.net; www.base58.com/bsx.html

taz Nr. 6712 vom 28.3.2002, Seite 15, 391 Kommentar TILMAN BAUMGÄRTEL,
Rezension

taz muss sein: Was ist Ihnen die Internetausgabe der taz wert? Sie helfen
uns, wenn Sie diesen Betrag überweisen auf: taz-Verlag Berlin, Postbank
Berlin (BLZ 100 100 10), Konto-Nr. 39316-106

© Contrapress media GmbH
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des taz-Verlags

zurück
-------------------------------------------------------
rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur
Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost Info: http://www.mikro.org/rohrpost
Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de