Pit Schultz on 18 Sep 2001 12:12:51 -0000


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[rohrpost] Susan Sontag in der American Academy


[text gegen bild? einer der versuche der letzten tage im konkurrenzkampf
der klassischen oeffentlichen intellektuellen mit den 'neuen'
elektronischen massenmedien ..]



"Unsere Stärke wird uns nicht helfen"

Susan Sontag über Amerikas Selbstbetrug

gelesen in der American Academy, Berlin, am 13.09.2001

Als entsetzter und trauriger Amerikanerin und New Yorkerin scheint es mir, 
als sei Amerika niemals weiter von der Wirklichkeit entfernt gewesen als am 
letzten Dienstag, dem Tag, an dem ein Übermaß an Wirklichkeit auf uns 
einstürzte. Das Mißverhältnis zwischen den Ereignissen und der Art und 
Weise, wie sie aufgenommen und verarbeitet wurden, auf der einen Seite und 
dem selbstgerechten Blödsinn und den dreisten Täuschungen praktisch aller 
Politiker (mit Ausnahme von Bürgermeister Giuliani) und 
Fernsehkommentatoren (ausgenommen Peter Jennings) auf der anderen Seite, 
ist alarmierend und deprimierend. Die Stimmen, die zuständig sind, wenn es 
gilt, ein solches Ereignis zu kommentieren, schienen sich zu einer Kampagne 
verschworen zu haben. Ihr Ziel: die Öffentlichkeit noch mehr zu verdummen.

Wo ist das Eingeständnis, daß es sich nicht um einen "feigen" Angriff auf 
die "Zivilisation", die "Freiheit", die "Menschlichkeit" oder die "freie 
Welt" gehandelt hat, sondern um einen Angriff auf die Vereinigten Staaten, 
die einzige selbsternannte Supermacht der Welt; um einen Angriff, der als 
Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten 
unternommen wurde? Wie vielen Amerikanern ist bewußt, daß die Amerikaner 
immer noch Bomben auf den Irak werfen? Und wenn man das Wort "feige" in den 
Mund nimmt, dann sollte es besser auf jene angewandt werden, die 
Vergeltungsschläge aus dem Himmel ausführen, und nicht auf jene, die bereit 
sind, selbst zu sterben, um andere zu töten. Wenn wir von Mut sprechen, der 
einzigen moralisch neutralen Tugend, dann kann man den Attentätern - was 
immer sonst auch über sie zu sagen wäre - eines nicht vorwerfen: daß sie 
Feiglinge seien.

Unsere politische Führung redet uns entschlossen ein, alles sei in Ordnung. 
Amerika fürchtet sich nicht. Unser Geist ist ungebrochen. "Sie" werden 
aufgespürt und bestraft werden (wer immer "sie" sind). Wir haben einen 
Präsidenten, der uns wie ein Roboter immer wieder versichert, daß Amerika 
nach wie vor aufrecht steht. Von vielen Personen des öffentlichen Lebens, 
die die Außenpolitik der Regierung Bush noch vor kurzem heftig kritisiert 
haben, ist jetzt nur noch eines zu hören: daß sie, gemeinsam mit dem 
gesamten amerikanischen Volk, vereint und furchtlos hinter dem Präsidenten 
stehen. Die Kommentatoren berichten, daß man sich in psychologischen 
Zentren um die Trauernden kümmert. Natürlich werden uns keine gräßlichen 
Bilder davon gezeigt, was den Menschen zugestoßen ist, die im World Trade 
Center gearbeitet haben. Solche Bilder könnten uns ja entmutigen. Erst zwei 
Tage später, am Donnerstag (auch hier bildete Bürgermeister Guiliani wieder 
eine Ausnahme), wurden erste öffentliche Schätzungen über die Zahl der 
Opfer gewagt.

Es ist uns gesagt worden, daß alles in Ordnung ist oder zumindest wieder in 
Ordnung kommen wird, obwohl der Dienstag als Tag der Niedertracht in die 
Geschichte eingehen wird und Amerika sich nun im Krieg befindet. Nichts ist 
in Ordnung. Und nichts hat dieses Ereignis mit Pearl Harbor gemein. Es wird 
sehr gründlich nachgedacht werden müssen - und vielleicht hat man ja damit 
in Washington und anderswo schon begonnen - über das kolossale Versagen der 
amerikanischen Geheimdienste, die Zukunft der amerikanischen Politik 
besonders im Nahen Osten und über vernünftige militärische 
Verteidigungsprogramme für dieses Land. Es ist aber klar zu erkennen, daß 
unsere Führer - jene, die im Amt sind; jene, die ein Amt begehren; jene, 
die einmal im Amt waren - sich mit der willfährigen Unterstützung der 
Medien dazu entschlossen haben, der Öffentlichkeit nicht zuviel 
Wirklichkeit zuzumuten. Früher haben wir die einstimmig beklatschten und 
selbstgerechten Platitüden sowjetischer Parteitage verachtet. Die 
Einstimmigkeit der frömmlerischen, realitätsverzerrenden Rhetorik fast 
aller Politiker und Kommentatoren in den Medien in diesen letzten Tagen ist 
einer Demokratie unwürdig.

Unsere politischen Häupter haben uns auch wissen lassen, daß sie ihre 
Aufgabe als Auftrag zur Manipulation begreifen: Vertrauensbildung und 
Management von Trauer und Leid. Politik, die Politik einer Demokratie - die 
Uneinigkeit und Widerspruch zur Folge hat und Offenheit fördert, ist durch 
Psychotherapie abgelöst worden. Laßt uns gemeinsam trauern. Aber laßt nicht 
zu, daß wir uns gemeinsam der Dummheit ergeben. Ein Körnchen historischen 
Bewußtseins könnte uns dabei helfen, das Geschehene und das Kommende zu 
verstehen. "Unser Land ist stark", wird uns wieder und wieder gesagt. Ich 
finde dies nicht unbedingt tröstlich. Wer könnte bezweifeln, daß Amerika 
stark ist? Aber Stärke ist nicht alles, was Amerika jetzt zeigen muß.

http://sontag.4t.com/

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