Ralf Knüfer on 11 Sep 2001 10:56:35 -0000


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[rohrpost] Net-Sklaven aller Länder



Die Welt ist nicht genug (6): Nach Seattle und Genua muss sich nun auch
die kollektive globale Intelligenz in einer neuen Form selbst
organisieren
http://www.taz.de/pt/2001/09/11/a0125.nf/text

 Seattle, Tokio, Göteborg und Genua - die Weltordnung der "New Economy"
wird nicht länger als Chefsache akzeptiert. Mit der Wahrnehmung sozialer
Ungerechtigkeit wächst auch der Widerstand. Wie aber sehen die Kritiker
der Globalisierung aus? Was treibt sie an? Und welche Kultur entsteht
aus dem neuen Protest?
von FRANCO BERARDI

20 Jahre lang erschien der neoliberale Konformismus unangreifbar. Als
echte Form des kulturellen Terrorismus ließ er weder ethische noch
politische Alternativen zu. Wer nicht die Überlegenheit des
Profitgesetzes akzeptierte, wurde als Relikt der Vergangenheit
betrachtet. Dann kam es zur Revolte von Seattle, Signal der Auflösung
dieses Konformismus. Mit einem Mal war die Diktatur der Ökonomie über
jede diskursive, imaginäre und existenzielle Dimension in Frage
gestellt.

Krise der New Economy

Wie aber ist dieser Bruch herangereift, und welche gesellschaftliche
Dynamik hat ihn ermöglicht? Um die Genese der in Seattle zu Tage
getretenen globalen Bewegung zu verstehen, müssen wir die
gesellschaftliche Zusammensetzung der neuen vernetzten Arbeit
analysieren; die Herausbildung und die Krise der globalen Wissensarbeit.
Erst als der Produktionprozess und die Ideologie der New Economy in die
Krise geriet, verwandelte sich die vernetzte Wissensarbeit in eine
Bewegung der Selbstorganisation und der Revolte.

Die neue Dynamik wurde erst vor zwei Jahren manifest: Die
Geschwindigkeit, mit der die Bewegung politisch expandierte, war
fulminant, doch ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion ist nicht in gleichem
Maße vorangeschritten, und noch immer verfügen wir nicht über einen
begrifflichen Rahmen, der geeignet wäre, ihre gesellschaftliche
Architektur sowie die strategischen Horizonte offenzulegen. Das
Aufkommen der Bewegung lässt sich nicht mit den Kriterien der Dialektik
und des Sozialismus des 20. Jahrhunderts interpretieren; sie wird weder
durch die politischen Formen der Revolution noch durch die des
Reformismus politisch Ausdruck finden können.

Ab Seattle haben wir zwei aktuellen Phänomenen beigewohnt: Die
Semio-Ökonomie (auch New Economy genannt) ist in eine Krise geraten, die
nicht nur finanzieller, sondern auch struktureller Natur ist. Die Krise
der Semio-Ökonomie entsteht aus dem Widerspruch zwischen dem Ausstoß der
semiotischen Produktion, die unter den Bedingungen der digitalen und
vernetzten Technologie unbegrenzt ist, und dem mentalen Markt, das
heißt, der gesellschaftlich verfügbaren Aufmerksamkeit.

Aufmerksamkeitsverlust

Diese Aufmerksamkeit ist notwendigerweise aufgrund der Zeit beschränkt,
über die das organisch begrenzte Hirn einer begrenzten
gesellschaftlichen Masse mentaler Konsumenten verfügt. Was Marx
Überproduktionskrise nannte, manifestiert sich heute als Gefälle
zwischen Cyberspace und Cyber-Zeit, zwischen unbegrenzter semiotischer
Produktion und einem schnell erschöpften Aufmerksamkeits-Markt. Die
Krise der New Economy wurzelt in diesem Widerspruch, und sie findet
keine Lösung innerhalb der Grenzen der neoliberalen Gesellschaft.

Als sich nun die Krise der Semio-Ökonomie in der Vorstellungswelt der
Jugendlichen, vor allem aber in der Vorstellungswelt des
Hightech-Proletariats, der virtuellen Klasse der kognitiven
Netz-Arbeiter, manifestierte, kam es zu einer Ablehnung gegenüber der
Reduktion der individuellen Existenz ausschließlich auf das Geschäft:
eine Ablehnung, die weniger politischer als existenzieller Natur ist.

In den 90er-Jahren funktionierte die New Economy als Versprechen von
Glück, Erfolg und schneller Bereicherung. Eine Richtung der Cyber-Kultur
(vertreten durch das Wired-Magazin) hat auf diesem Versprechen eine
zynische Utopie von großer Faszinationskraft konstruiert. Doch
tatsächlich wurden Intelligenz, Kreativität, Kommunikation der
Profitmaximierung unterworfen. Das Glücksversprechen bekam Risse. Der
Einbruch des Nasdaq war das Wecksignal: Die Illusion von der
Glückseligkeit löste sich auf. Jene, die sich als Unternehmer ihrer
selbst proklamiert hatten, entdeckten sich als Sklaven von technischen,
finanziellen und institutionellen Automatismen, die ihre gesamte Zeit,
ihr gesamtes Leben und ihre gesamte bewusste Aktivität absorbierten.

Die kognitiven Arbeiter entdeckten außerdem mit einem Schlag, dass ihre
Löhne kaum ausreichten, um dem Wettbewerbsstress standzuhalten, sie
entdeckten die existenzielle wie die sexuelle Misere eines Lebens als
Net-Sklaven. In dieser kulturellen Krise wurde eine enorme Menge
intelligenter Zeit freigesetzt. In dem Maße, wie sich die Illusion
auflöste, begannen immer mehr Wissensproletarier, ihre Kompetenzen in
einen Prozess kreativer Solidarität zu investieren. Daraus entstand die
globale Bewegung. Auf dieser Ebene fand die globale Bewegung auch ihre
Strategie. Und unter diesen Bedingungen bereitete sich die Explosion von
Genua vor.

Horror in Genua

Genua war der Schlusspunkt des Startzyklus der globalen Bewegung.
Außerhalb der Roten Zone, in der sich die G 8 eingeschlossen hatten,
demonstrierten hunderttausende Personen: Es handelte sich nicht nur um
Aktivisten der Linken des 20. Jahrhunderts, sondern auch um Videofilmer,
um Wissensarbeiter, um Leute, die im sozialen Bereich arbeiten, und um
eine enorme Zahl von Menschen, die sich ehrenamtlich sozial engagieren,
in religiösen wie auch in nichtreligiösen Kontexten. Die Polizei schlug
überall zu, sie verprügelte kniende Personen, sie verhaftete, sie
verletzte, sie tötete, und am Ende attackierte sie die Journalisten von
Indymedia, die im Schlaf in einer Schule überrascht wurden.

Überall sind die Menschen mit Bürgersinn entsetzt über das, was in
Italien, wo die Mafia an der Regierung ist, geschieht. Dieses Land hat
eine Neigung zum autoritären Konformismus, wie es sich schon mehrfach im
vergangenen Jahrhundert gezeigt hat. Die nationale Identität Italiens
ist schwach gegenüber dem Reichtum an kulturellen Unterschieden, und das
produziert auf der einen Seite den amoralischen Familiarismus der Mafia
als tribalen und kriminellen Ersatz für die staatliche Autorität. Auf
der anderen Seite produziert es die aggressive Bekräftigung der
Staatlichkeit, die sich im Faschismus organisiert. Heute sind erstmals
Mafia und Faschismus (Berlusconi und Fini) miteinander verbündet, im
Verein mit dem populistischen Rassismus der Lega Nord und dem
katholischen Integralismus. Diese Summe von Unkulturen bringt
unvorstellbare Monstrositäten hervor und wird sie weiter hervorbringen.
Doch das Problem ist nicht nur italienisch. Das globale Kapital ist in
eine Krise getreten, deren Lösung niemand sich vorzustellen weiß. Das
italienische Fieber ist bloß ein Anzeichen dieser verrückten
Entwicklung.

Die Bewegung muss also Perspektiven entwickeln, die absolut innovativ
sind gegenüber den Erfahrungen der revolutionären Bewegungen des 20.
Jahrhunderts. Zurzeit ist das theoretische und strategische Bewusstsein
nicht auf der Höhe der produktiven Möglichkeiten der Bewegung und des
Reichtums ihrer gesellschaftlichen Zusammensetzung.

Die globale Bewegung

Schon die Definition No-global, die Gruppen wie Attac mit dem
ökologischen Lokalismus und mit sozial Engagierten aus religiösen
Gruppen eint, ist ungenau und in der Substanz reaktionär. Diese Bewegung
ist aus Berufung global, in ihrer Zusammensetzung wie in ihrer Kultur.
Der Antiglobalismus ist der nationaler politischer Herrschaft gegenüber
den globalen Firmen. Mit der Wahl einer Perspektive, die auf die
Restaurierung der nationalen Souveränität zielt, verurteilt man die
Bewegung zu einer sicheren Niederlage; man reduziert sie auf die
Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der der Staat eine wirksame
politische Maschine war und die nationalen Grenzen eine
Territorialisierung der Demokratie ermöglichten. Heute aber ist der
Nationalstaat einem entterritorialisierenden Druck ausgesetzt, der nicht
mit den Methoden moderner staatlicher Politik zu beherrschen ist. Die
neue Dimension der Demokratie findet sich nicht innerhalb der Grenzen
nationaler Souveränität, sie muss auf der höheren, komplexeren Ebene
gesucht werden, der Ebene des globalen Netzes.

Die gesellschaftliche Zusammensetzung der vernetzten Wissensarbeit
bringt eine neue Perspektive der Selbstorganisation der kollektiven
Intelligenz hervor und der Autonomie des Wissens von Profitgesetz und
privatem Eigentum. Das Profitgesetz begrenzt die produktiven Potenziale
der kollektiven Intelligenz, doch in der Praxis des open source ist
schon eine Alternative zum Profitgesetz eingeschlossen. Diese
Alternative muss zur bewussten Strategie der globalen Bewegung werden.

Nach Genua muss die Bewegung aus der sich immer wiederholenden Spirale
der nur reaktiven antiglobalistischen Demonstrationen heraustreten; die
Selbstorganisation der kognitiven Arbeit muss ihr Programm werden: Die
Wissenschaftler, die Forscher, die Kommunikationsarbeiter, ja auch die
Funktionäre der electronic governance sind die sozialen und produktiven
Handlungsträger dieser Perspektive der Selbstorganisation der
gesellschaftlichen Intelligenz. Sie können die Funktionsweise der
techno-sozialen Interfaces umkehren und sie können einer sozial
orientierten technologischen Architektur Form geben. Sie können die
Macht des Semio-Kapitals aushöhlen und die Projekte der Global players
sabotieren, die die Semio-Sphäre beherrschen. Sie können das Wissen
vergesellschaften, indem sie Patente sabotieren und Forschungsresultate
öffentlich machen.

Die Wissensarbeiter haben schon begonnen, sich in dieser Richtung zu
bewegen. Tausende Forscher verschiedener Nationen haben die Forderung
vorgebracht, dass die Resultate aller wissenschaftlicher
Forschungsprojekte im Internet veröffentlicht werden. Erfahrungen mit
open source auf dem Feld der Informatik dehnen sich aus. Und im
Mediensystem bilden sich Situationen wie Indymedia heraus, vom
ökonomischen System unabhängige Informationsnetze. Von Seattle bis Genua
hat die Bewegung als Kraft der Veränderung der planetaren
Vorstellungswelt, des ethischen Bewusstseins sowie des politischen
Feldes gewirkt. Diese Mission ist jetzt vollendet. Die Mächtigen der
Erde sind auf der Flucht, sie verschanzen sich in den Bergen Kanadas
oder den Wüsten Katars. Heute muss die Bewegung zur politischen Kraft
für die Selbstorganisation des gesellschaftlichen Erkenntnisprozesses
werden, zu einer politischen Kraft, die die Autonomie der kollektiven
Intelligenz gegenüber den Regeln des Semio-Kapitals möglich macht.


Übersetzung: Michael Braun
taz Nr. 6546 vom 11.9.2001, Seite 15, 348 TAZ-Bericht, FRANCO BERARDI,
taz-Serie: Die Welt ist nicht genug

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