"Baumgärtel, Dr. Tilman" on 1 Dec 2000 11:04:31 -0000


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[rohrpost] btx


Berliner Zeitung
  
1. Dezember 2000



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Heute geht der Bildschirmtext vom Netz. Nachruf auf ein Online-Urgestein

von Martín Konitzer

Die Geschichte des Bildschirmtextes, besser bekannt unter dem Kürzel Btx,
ist eine
Geschichte voller Missverständnisse: für die einen ist Btx das Musterbeispiel
eines
grandiosen Marketing-Flops und ein Holzweg der technischen Evolution, für
andere
die frühe, erfolgreiche Generalprobe von Dingen, die im Internet-Zeitalter
inzwischen
als ausgesprochen innovativ und "trendy" gelten - Online-Shopping,
Telebanking,
E-Mail, Chat. Welcher Deutung man sich auch anschließen mag, eines ist
sicher: Am
heutigen Freitag nimmt die Deutsche Telekom ihren Btx-Dienst vom Netz. Ein
Vierteljahrhundert nach seinem Start endet damit das erste Kapitel der
deutschen
Online-Geschichte.

Begonnen hat das Online-Zeitalter hier zu Lande merkwürdigerweise mit einem
Online-Möbel: einer Musiktruhe. In die hatte der britische Post-Ingenieur Sam
Fedida
Mitte der siebziger Jahre wundersame Elektronik eingebaut, die es möglich
machte,
Datensignale aus der Telefonleitung abzuzapfen und als Texte auf einem
normalen
Fernseher darzustellen. Im Frühjahr 1976 demonstrierte Fedida die Erfindung
vor
Postkollegen in Darmstadt und "surfte" per TV-Fernbedienung zu einer
Datenbank
nach London - Uraufführung für die neue Art von Volks-EDV, die die
Öffentlichkeit
schon ein Jahr später auf der Funkausstellung 1977 erstmals live testen
konnte.

Erste Schritte im eCommerce

1980 ging Btx als erster Online-Service für ein Massenpublikum offiziell an
den
Start. Zunächst versuchsweise in der Region Düsseldorf und in Berlin, später
dann
bundesweit, mit einigen tausend Testnutzern, ein paar hundert Anbietern - und
bemerkenswert frühen Premieren: Der Online-Pionier "Verbraucherbank" koppelte
wenige Wochen nach der Inbetriebnahme seine Kontenrechner ans Postnetz und
eröffnete vor genau 20 Jahren den ersten Telebanking-Service für
Kontoabfragen
und Überweisungen. Die Versandhäuser Otto und Quelle starteten ebenfalls
schon
1980 mit Shopping-Anwendungen in den E-Commerce, mit dem sie bereits Anfang
der 90er beachtliche Umsätze von knapp hundert Millionen Mark pro Jahr
erzielten -
zu einem Zeitpunkt, als das Thema Internet noch in weiter Ferne lag.

Eigentlich war Sam Fedidas Idee mit dem Fernseher als Online-Terminal Mitte
der
70er-Jahre nur logisch: der PC wollte ja damals erst noch erfunden werden und
so
war das TV-Gerät weit und breit der einzig verfügbare (Daten-)Bildschirm für
Normalverbraucher - noch dazu in fast jedem Haushalt vorhanden und, so
zumindest
die Erwartung, mit wenig Aufwand für den Anschluss an die Telefonleitung
aufrüstbar.

Beste Voraussetzungen also, und weil alles so wunderbar zusammenpasste,
machte
Anfang der 80er-Jahre auch schnell die Zahl von einer Million Btx-Nutzern die
Runde,
die innerhalb von drei oder vier Jahren am Netz sein sollten - zumindest nach
Meinung von Medienwissenschaftlern, die in den Wohnzimmern der Republik
ausführlich das Online-Verhalten der ersten User unter die Lupe genommen
hatten.
Die Million hat Btx dann auch erreicht - allerdings erst 1996.

Aus der schönen Idee, Online und Fernseher zu verheiraten, ist
bekanntermaßen
nichts geworden - übrigens nicht nur bei Btx. Auch viele andere interaktive
Medien-Neuheiten, bei denen die Flimmerkiste im Wohnzimmer einen Nebenjob
übernehmen soll, tun sich bis heute damit schwer: Der Internet-Zugang über
das
TV-Gerät führt trotz allgemeiner Web-Euphorie ein Mauerblümchendasein und
auch
das interaktive Bezahl-Fernsehen feiert hier zu Lande keine durchschlagenden
Markterfolge.

Im Fall von Btx steckte in den Anfangsjahren dahinter allerdings ein
hausgemachtes
Problem von Post und Fernsehgeräte-Industrie, weil die erforderlichen Decoder
mit
deutscher Ingenieurs-Gründlichkeit zunächst viel aufwändiger als notwendig
konzipiert wurden, dann nicht lieferbar waren und schließlich nur viel zu
teuer
angeboten werden konnten: tausend Mark als Eintrittsgeld für den Luxus,
Medien-Pionier sein zu dürfen, leistet sich halt kein Massenpublikum.

Eher schon jene, die beruflich Online-Anschluss brauchen und die haben Btx
auch
entsprechend früh entdeckt: BMW hatte bereits Mitte der 80er seine komplette
Händlerschaft online, die Konkurrenz von Fiat, Renault, Nissan oder Subaru
folgte auf
dem Fuße. Versicherungs-Vertreter, z.B. von Iduna, kontaktierten per Btx den
Server ihrer Gesellschaft und neun von zehn Reisebüros im Lande waren Ende
der
80er-Jahre Btx-Anwender. Heute nennt man das neudeutsch Business-to-Business
oder kurz B2B. Früher hieß es schlicht "Geschlossene Benutzergruppe", was
ungefähr dasselbe ist, aber eben nicht ganz so cool klingt.

Btx wäre kein richtig deutscher Online-Dienst gewesen, wenn man dazu nicht
gleich
ein passendes Gesetz erlassen hätte. Das nannte sich "Btx-Staatsvertrag" und
war
im Prinzip eine gute Sache - nur dann nicht, wenn man es mal brauchte. Etwa,
als
nach Jahren des virtuellen Dornröschenschlafs der Service Anfang der 90er
endlich
erwachte - und flugs zum Telepuff mutierte. Dutzende von Erotik-Anbietern
machten
sich auf dem Post-Server breit, was dem ohnehin angekratzten Btx-Image nicht
gerade zuträglich war, aber von Rechts wegen völlig in Ordnung ging.

Weil dem Btx-Betreiber Bundespost per Staatsvertrag jede inhaltliche
Einflussnahme
auf den Dienst untersagt war, konnten solche Entwicklungen nicht korrigiert
werden.
Und darin lag denn auch ein zentrales Problem, das jahrelang eine
erfolgreiche
Btx-Vermarktung und -Verbreitung behinderte: Post und Telekom rührten die
Werbetrommel für einen Service, dessen Inhalt und Qualität sie eigentlich
nicht
interessieren durfte. Eine an Anwenderbedürfnissen orientierte
Angebotsentwicklung war deshalb genauso unmöglich wie ein Marketing, das
diesen
Namen verdient hätte.

Keine idealen Voraussetzungen in einer Phase, in der in Sachen Online-Medien
noch
Pionierarbeit zu leisten war. Was blieb, waren lapidare Werbeslogans wie "Btx
-
damit Sie"s leichter haben", mit denen man niemandem auf die Füße trat, bei
denen
aber auch nicht unbedingt die rechte Lust auf Cyber-Space und Info-Highway
aufkommen wollte.

Ein später heimlicher Erfolg

Trotz alledem konnte Btx zu guter Letzt doch noch mit respektablen
Anschlusszahlen
aufwarten - 500 000 Teilnehmer zählte der Dienst 1994, drei Jahre später
waren
es schon mehr als 1,5 Millionen. Zur späten Akzeptanz beigetragen haben dabei
sicherlich ein paar Dutzend guter, geldwerter Services, die sich neben dem
reichlich
vorhandenen Datenschrott über die Jahre wacker behaupteten. Darunter nicht
zuletzt
die umfassenden Online-Banking-Angebote der führenden deutschen Geld- und
Kreditinstitute, über die Mitte der 90er-Jahre schon mehr als eine Million
Telekonten
geführt wurden.

Die beginnende Liberalisierung auf dem Telekommunikationsmarkt tat ein
Übriges und
erlaubte es Bundespost-Nachfolger Telekom, sich mit Vermarktungspartnern
intensiver als zuvor um weitere attraktive Online-Inhalte, etwa von Verlagen,
zu
bemühen und den Dienst damit zunehmend auch für den privaten Nutzer
interessant
zu machen. Und schließlich hatte in den Haushalten längst der PC Einzug
gehalten und
setzte sich dort mehr und mehr als Online-Terminal durch - die notwendige
Software, auch für den Btx-Zugriff aufs Internet, gab"s inzwischen ja meist
kostenlos.

So ist Btx in seinen späten Jahren doch noch ein heimlicher Erfolg geworden,
von dem
nicht wenige profitierten: viele Info-Anbieter, weil sie dort früh
Online-Erfahrungen
sammeln konnten und deshalb - anders als manches Start-up - rechtzeitig zum
Netz-Boom mit bereits erprobten Lösungen am Markt waren. Profitiert hat auch
die
Telekom, die dank der Btx-User ihren "T-Online"-Service Ende der 90er mit
einem
komfortablen Abonnenten-Vorsprung ins Rennen schicken konnte. Draufgezahlt
haben
nur die Steuerzahler: Sie hat das Online-Abenteuer Btx über die Jahre mehr
als eine
Milliarde Mark gekostet.

Der Autor war von 1989 bis 1995 Chefredakteur des "Btx Magazins".

Das Ende einer Ära

Seine öffentliche Premiere feierte der Bildschirmtext 1977 auf der
Internationalen Funkausstellung in Berlin. 1980 startete dann ein Feldversuch
des
Dienstes, der ursprünglich als interaktiver Videotext konzipiert war, in
Berlin und
Düsseldorf - mit jeweils 2 000 Teilnehmern.

An den Erfolg des französischen Minitel konnte Btx nie anknüpfen - erst 1996
wurde die Marke von einer Million Nutzern erreicht, zwölf Jahre später als
anfänglich prognostiziert. Im September 2000 kündigte die Telekom an, den
Dienst
zum 1. Dezember einzustellen. 


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BerlinOnline GmbH, 01.12.2000 

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