Krystian Woznicki on 10 Aug 2000 14:46:27 -0000


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[rohrpost] Time Code von Mike Figgis, in SZ 10.08.00



Kino im Viervierteltakt
Das Festival in Locarno zeigt „Time Code“ von Mike Figgis
Man kann nicht behaupten, dass Mike Figgis ein großer Freund von Hollywood 
wäre. Und es lässt sich auch nicht leugnen, dass er dafür durchaus einen 
guten Grund hat. Als er 1993 mit Richard Gere „Mr. Jones“ drehte, musste er 
zusehen, wie das Studio eine geänderte Fassung ins Kino brachte. Seither 
sieht Figgis jeden seiner Filme als Beweis dafür, dass es auch anders geht, 
mit weniger Geld und kleinerem Team, mehr Freiheit und Ideen. Daraus wurde 
dann erstmal „Leaving Las Vegas“, der Nicolas Cage einen Oscar und Figgis 
zwei Nominierungen als Regisseur und Drehbuchautor einbrachte, und nun das 
Projekt „Time Code“, das in Hollywood spielt, aber dort nie hätte entstehen 
können.
Doch vorher hat er noch für die zehnte Ausgabe von John Boormans 
Filmbuchreihe „Projections“ (Projections 10: Hollywood Film-Makers on 
Film-Making. Faber & Faber, 305 Seiten, 12,99 £) einen Band über Hollywood 
herausgegeben, in dem er etwa 40 Filmschaffende aus der Filmmetropole 
befragt: Schauspieler und Regisseure, Manager und Agenten, Stars und 
Sternchen, Außenseiter und Player. Er will vor allem dahinter kommen, wo 
genau die Grenze verläuft zwischen ehrlicher Arbeit und Prostitution – als 
sei es ein ehernes Gesetz, dass man in Hollywood dem Teufel seine Seele 
verkaufen muss, wenn man es zu was bringen will.
Obwohl also sein Erkenntnisinteresse klar vorgegeben ist und die Fragen 
immer wieder in die gleiche Richtung zielen, gehört dieses Buch doch zum 
Spannendsten und Anschaulichsten, was es über das Filmgeschäft zu lesen 
gibt. Das mag zum einen daran liegen, dass er als angesehener Regisseur 
doch einen ganz anderen Zugang zu seinen Kollegen hat, verdankt sich aber 
auch der Tatsache, dass Figgis ganz naive Fragen stellt, die sich auf 
einfache Abläufe und normalen Alltag beziehen. Dabei interessiert ihn 
besonders, wie das Vorsprechen, die sogenannten auditions vonstatten gehen, 
die selten mehr als reine Fleischbeschau sind. Die Frage, die dem Buch 
unterschwellig eingeschrieben ist, lautet dabei natürlich: Wie ist es 
möglich, dass es in Hollywood so viel dumme Filme gibt, wo dort doch so 
viele intelligente Menschen arbeiten? An der Antwort arbeiten Leute wie 
Jerry Bruckheimer, Bob Rafelson, Mickey Rourke, Nastassja Kinski, Elizabeth 
Shue, Robert Downey jr. , Jodie Foster, Salma Hayek und Mel Gibson – und 
Sylvester Stallone, der sich als einer der reflektiertesten 
Gesprächspartner erweist.
Fast hat man den Eindruck, als habe Figgis diese Gesprächserfahrungen noch 
einmal in „Time Code“ verarbeitet, der gerade auf dem Festival in Locarno 
Europa-Premiere feierte. Alles dreht sich um eine Produktionsfirma auf dem 
Sunset Boulevard, wo noch eine Besetzung für eine Hauptrolle gesucht wird. 
Am Ende taucht eine Videokünstlerin auf und predigt, das Zeitalter der 
Montage sei vorbei, die Zukunft liege darin, vier Geschichten gleichzeitig 
zu erzählen. Woraufhin der Regisseur verkündet, so einen Quatsch habe er 
schon lange nicht mehr gehört. Weil „Time Code“ aber genau dasselbe 
versucht, sieht man schon, dass Figgis sein kühnes Projekt nicht ernster 
nimmt, als es die Versuchsanordnung zulässt.
Schon wenn der Film aus dem Dunkel auftaucht, blitzt ein Fadenkreuz auf, 
das die Leinwand in vier gleiche Flächen zerteilt. Dann sieht man Zeiger, 
Pegel, Ausschläge – und der Timecode beginnt zu laufen, auf allen vier 
Leinwandvierteln gleichzeitig. Und so bleibt es auch bis zum Ende: Man 
sieht vier Bilder gleichzeitig, vier Handlungsfäden, die aufeinander 
zulaufen, sich manchmal kreuzen und verknoten und doch stets ihrer eigenen 
Spur folgen. Ein logistischer Alptraum: vier Kameras gleichzeitig zu 
starten und so aneinander vorbei zu dirigieren, dass sie sich nicht 
gegenseitig ins Bild kriegen; zwei Dutzend Schauspieler so agieren zu 
lassen, dass sie 90 Minuten lang nie aus der Rolle fallen und stets wissen, 
was sie zu tun haben. Aber am Ende ist „Time Code“ ein Sieg der 
Risikofreude gegen jede Wahrscheinlichkeit.
Figgis’ Herangehensweise ist eine musikalische, indem er mit den vier 
Bildern umgeht wie ein Dirigent mit seinem Orchester. Und den Blick lenkt 
er ohnehin mit dem Ton, so dass die Aufmerksamkeit sich ganz natürlich 
immer nur einem Bild zuwendet. Man sieht diesen Film also mit den Ohren.
MICHAEL ALTHEN


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