Reinhold Grether on Fri, 9 Jun 2000 04:24:20 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Konferenzbericht Tulipomania


Konfliktfelder der New Economy
Reinhold Grether
Die Tulipomania Dotcom-Konferenz in Amsterdam und
Frankfurt vom 2. bis 4. Juni 2000


Monomedia - oeconomenta - Tulipomania Dotcom

Jede Zeit bringt, einem gefluegelten Wort zufolge, eine Form
hervor, worin sie ihre Gedanken erfasst. Die philosophischsten
Textformen der neunziger waren das mehrere Abschnitte
umfassende "executive summary" am Beginn und der oft
einzeilige "disclaimer" am Ende des Jahrzehnts. Dass es noch
knapper geht, darüber belehrt der neue Trendsetter des
"conference titles". Es brauchte gerade mal drei Wochen
und vier Staedte, um mit
"Monomedia" www.monomedia.hdk-berlin.de/ (Berlin),
"oeconomenta" www.oeconomenta.de/ (Witten) und
"Tulipomania Dotcom" www.balie.nl/tulipomania/
(Amsterdam und Frankfurt) die Poetik der Gegenwart
in ein Doppelwort zu verdichten.

Alle drei Konferenzen versuchten, den Ende der achtziger
Jahre infolge des Globalisierungs- und Informatisierungsdrucks
zusammengebrochenen Dialog zwischen Kultur und Wirtschaft
auf eine neue weltkulturkapitalbildende Umlaufbahn zu hieven.
oeconomenta (zwei Tage für 2.900 dm) knuepfte den Faden
mit Zentralbegriffen wie Wahrnehmung, Erlebnis und
Inszenierung genau an der Stelle neu, wo er seinerzeit
gerissen war. Monomedia (drei Tage für 890, dann verbilligt
auf 590 dm) folgte dem bekannten Baudrillardschen Vorschlag,
die neunziger gefaelligst auszulassen, und schnitt die Dimensionen
des Crossovers, des Blurrings und des Hypermedialen auf die
Selbstverstaendlichkeit von Werten und den Monologismus von
Selbstgewissheiten zurück - in klassischen Begriffen eine
veritable Konterrevolution gegen das Netz und nichts weniger
als eine Parallelaktion zu Haiders Willen zum Einfachen.

Tulipomania Dotcom (zwei Tage Amsterdam für 60 dfl und
ein Nachmittag Frankfurt umsonst) entwickelte die Netzkritik
zu einer umfassenden Bestandsaufnahme der Konfliktfelder
der New Economy und elektronifizierte gewissermassen den
traditionellen Diskurs zwischen Wirtschaft und Kultur, unterliess
es aber, zu völlig neuen Fragestellungen aufzubrechen, die den
alten Abgrenzungen den Garaus gemacht haetten. "Wirtschaft"
ist heute ein enormer Kulturproduzent, waehrend "Kultur",
insbesondere in Gestalt der Geisteswissenschaften, sich fragen
lassen muß, ob sie nicht, unfaehig ihre Ideen zu programmieren,
in der Taubstummensprache eines Neuen Analphabetismus
kommuniziert. So beliess es der schwaechste Teil von Tulipomania
Dotcom - die vom Amsterdamer Lokalfernsehen uebertragene
Schlussdebatte - beim altbackenen Antagonismus von
kulturfeindlicher Wirtschaft und wirtschaftsfremder Kultur,
obwohl man kurz zuvor der These Korinna Patelis (Goldsmiths
College, London), daß Software Kultur sei, beifaellig zugestimmt
hatte. Wenn Technokultur nun einmal die letzte Karte des
Westens ist, dann sollte saemtliche staatliche Foerderung
schleunigst in diesen Bereich verlagert werden!

Tulipomania Dotcom, das ja die Themen Internetoekonomie
und Neue Finanzmaerkte ganz oben auf die Tagesordnung
gesetzt hatte, fand an zwei Brennpunkten europaeischer
Wirtschaftsdynamik statt. Als neuem europaeischen Hauptsitz
von Cisco www.cisco.com/warp/public/3/nl/index.html schliesst
Amsterdam zu den fuehrenden europäischen Cyberstaedten
Helsinki, London und Stockholm auf, waehrend Frankfurt
mit der Eurropaeischen Zentralbank www.ecb.int/ Kontrolleur
der europaeischen Finanzmaerkte und Hueter der europaeischen
Waehrung wird. Die Konferenzidee geht auf den Neu-Australier
Geert Lovink zurueck, und Eric Kluitenberg für Amsterdam
und Andreas Kallfelz fuer Frankfurt besorgten die kongeniale
konzeptionelle und organisatorische Umsetzung. Acht Panels
in Amsterdam (The New Economy - Premises and Pitfalls;
Silicon Valley as a Global Business Model; Alternative
Strategies; Inclusion and Exclusion in the New Economy;
Consumer Rights; Nettocracy: A Class Analysis of the
Information Society; Convergence, Mergers and Monopolies;
Closing Plenary Session) und eines in Frankfurt und dazwischen
ein Minibusshuttle, um einige Sprecher zweimal auftreten zu lassen.

Da alle Beitraege auf der Webseite www.balie.nl/tulipomania/
veroeffentlicht werden (sollen), oder auch schon in Telepolis www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/8212/1.html nachzulesen
sind, beschraenke ich meinen Bericht auf die Themenfelder
"Kognitariat" und "Konsumtariat". Strasse frei für die
Wassertraeger des Tulpenwahns.


Kognitariat

Nach Ronald Coase's
www.nobel.se/laureates/economy-1991-press.html beruehmter
Theorie gibt es Firmen dann, wenn es billiger ist, jemanden zu
beschaeftigen, als die Arbeitsleistung am freien Markt
einzukaufen. Jede Veraenderung auf den Arbeits-, Waren-
und Finanzmaerkten und jede Innovation auf den Feldern von
Wissen, Kommunikation, Technologie und Infrastruktur wirkt
direkt auf das relative Verhaeltnis von Organisations- und
Transaktionskosten ein und fuehrt entweder zu Entlassungen
oder Einstellungen. Informationstechnologien sind fuer diese
Theorie lediglich ein Anwendungsfall (insofern bleibt alles
beim alten), aber noch die kleinste Softwarevariante kann
das ganze Muster in Richtung organisatorischer Firmenstrukturen
oder in Richtung transaktioneller Netzwerke verschieben.

Richard Barbrook (HyperMedia Research Centre
www.hrc.wmin.ac.uk/ London) verschaerft diese immer
schon beobachtbare, aber im Internet neue Formen
annehmende Divergenz zum Dualismus zwischen
Casino-Kapitalismus und Cyber-Kommunismus,
zwischen virtueller Klasse und kooperativer
Gemeinschaftlichkeit. Barbrook ist freilich weit davon
entfernt, die "gegenseitige Hilfe" (Kropotkin) zu idealisieren,
steht sie doch meist in langen Abhaengigkeitsketten zum
Casino-Kapitalismus und potenziert oft nur die ohnehin
wachsende Tendenz zur Selbstausbeutung. Aber das ist
eben nur die eine Seite. Wie der Pariser Oekonom und
Redakteur der in der Negri/Hardt-Tradition stehenden
ambitionierten Zeitschriftenneugruendung
"multitudes" http://www.samizdat.net/multitudes/ Pascal
Jollivet ausfuehrte, erzeugt der Ausschluss aus kapitalistischen
Verwertungszusammenhaengen im Gegenzug der Betroffenen
eine an gegenseitigem Austausch, kooperativem Lernen und
medialer Intervention orientierte Kulturbewegung, die das
Rueckgrat der französischen Streiks gegen das dortige
Bildungssystem ausmacht: die Arbeitslosen organisieren
die Proteste ihrer Kinder.

Untersucht man mit Andrew Ross, Leiter des American Studies
Programs www.nyu.edu/gsas/program/amerstu/corefac.html
der New York University, die kognitarielle Mittelklasse
zwischen IPO-Management und OpenSource-Elite, dann
haben die Haelfte der in Silicon Alley Beschaeftigten
Projektvertraege, die ihnen die Haelfte dessen einbringen,
was die Alten Medien zahlen. Und darunter gibt es die
schnell wachsende Dienstbotenklasse der Reinigungskraefte,
Pizzalieferanten, Taxifahrer und Hosenbuegler. In Frankfurt
referierte Helge Peukert, Wirtschaftstheoretiker an der
dortigen Universitaet, unter dem Stichwort der "flexiploitation"
eindringlich über die sozialen Kosten des networking und die
personellen Zumutungen der Allzeitverfuegbarkeit. Er tat dies
anhand von "Luc Boltanski / Eve Chiapello, Le nouvel esprit
du capitalisme, Paris: Gallimard 1999", einem 843 Seiten-Waelzer,
der offenbar weit über Sennetts "flexiblen Menschen" www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/buch/2301/1.html hinausgeht.


Konsumtariat

Solche Kritiken beschreiben den Schlagschatten, den
eingefahrene auf emergente Anthropologien werfen. Fuer
deren weltkulturelle Potentiale fehlt ihnen das Sensorium.
Alexander Bard, der bald sein Buch "The Netocrats" zum
Drucker bringt und bestverpflegt auf dem Podium erschien,
entwickelte am Flipchart eine der gelaeufigen Geschichtstabellen,
in deren letzter Spalte die Gegenwart erreicht wird. Um ein
paar von Bards Triaden plastisch werden zu lassen:
God - Man - Net; aristocracy - bourgeoisie - netocracy;
dictatorship - democracy - plenarchy; religion - academia -
electronic tribalism; serfs - workers - consumtariat. Dieses
Konsumtariat wird sich Bard zufolge auf C2B-Plattformen
artikulieren. Ein einfaches Beispiel waere priceline
www.priceline.com/, wo Konsumenten Zahlungsangebote
für bestimmte Waren hinterlegen. Aber letztlich kann jedes
Konsumenteninteresse, das auf Produktgestaltung oder
Firmenverhalten Einfluss nehmen will, oder das
Handhabungsprobleme oder Benutzererfahrungen
austauschen will, solche Consumer-to-Business-Plattformen
entwickeln.

James Love, Leiter des Consumer Projects on Technology
www.cptech.org/, steuerte zur ICANN-Debatte das Argument
bei, dass nicht nur aus freespeech-, sondern auch aus
Konsumentenschutzgruenden spezielle Domains für
Konsumentenanliegen geschaffen und freigehalten werden
muessen. David Mandl vom Autonomedia Verlag
www.autonomedia.org/ beschrieb die in Deutschland durch
die Teles-ISDN-Karten www.teles.de/ beruechtigte
Hotline-Strategie dubioser Firmen, ein Produkt kostenlos,
billig, fehlerhaft usw. abzugeben, und das eigentliche Geld
ueber die Hotline zu verdienen, mittels derer der Kunde das
Produkt doch noch funktionsfaehig machen will. Maurice
Wessling von Bits of Freedom beschaeftigte sich mit dem
Niedergang von Konsumentenrechten. Urheberrechte
unterminieren die Evaluierung der Produkte, wie die
Auseinandersetzung um die Entschluesselung der
Filtersoftware CyberPatrol zeige. Das Privatrecht unterliege
schleichenden Aushoehlungen, wenn Kaeufe nicht mehr anonym,
sondern nur nach Identifizierung getaetigt werden koennen.
Und Wibo Koole vom hollaendischen Verbraucherverband
will kuenftig Hacker einsetzen, um Sicherheitsluecken und
Datenschutzverletzungen aufzuspueren.


windhandel

Wie raffiniert der Konferenztitel "Tulipomania Dotcom"
gewaehlt war, laesst erst die Lektuere der entsprechenden
Passagen in "Simon Schama, Überfluss und schoener
Schein: Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter,
Muenchen: Kindler 1988" erkennen. Die Tulpe war ein aus
der Tuerkei importierter Luxusgegenstand, der jedoch durch
Abtrennen der Brutzwiebel von der Mutterzwiebel unbegrenzt
reproduziert werden konnte. Neue, noch schoenere Sorten
entstanden so schnell, daß der Versuch, einzelne Sorten vor
Imitation zu schützen, staendig ueberholt wurde. "Die Einfuehrung
neuer "Packungsformate" beschleunigte die Ausweitung des
Marktes." (S. 380) Es entstand eine ununterbrochene
Angebotskette zwischen Luxus- und Massenhandel. Mit
bescheidenem Einsatz konnte sich jeder am Gluecksspiel
des Kaufens und Spekulierens beteiligen. Die Zeit zwischen
dem Einpflanzen im Oktober und dem Ausgraben im Juni
belegte ein wachsender Warenterminhandel. Der Handel
wurde immer virtueller und bezog sich schliesslich nur noch
auf ein uebertragbares Stueck Papier mit einem imaginaeren
Lieferdatum drauf. Es waren, nach Schama, die Regulatoren,
deren Moralismus einen solchen "windhandel" nicht mehr aushielt,
die der Spekulation ein Ende setzten. Naechsten Monat erscheint
zudem "Peter M. Garber, Famous First Bubbles:
http://mitpress.mit.edu/book-home.tcl?isbn=0262072041
The Fundamentals of Early Manias, Cambridge: MIT 2000",
das nachweist, dass starke Preisschwankungen schon immer
zum Tulpenhandel gehoerten und dass die Auswirkungen des
Spekulationszusammenbruchs auf die Realwirtschaft denkbar
gering war. Wussten wir es nicht: Nach dem Crash ist vor dem
Crash.

Dank an Andreas Kallfelz, Franz Liebl, Geert Lovink und
Florian Schneider.

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Wie die Etoy-Kampagne gefuehrt wurde
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/5768/1.html
Durchbruch zum Weltcode
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/sa/8090/1.html
Blueprint for TOYWAR II
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/8212/1.html











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