Andreas Broeckmann on Fri, 11 Feb 2000 10:22:15 +0100 (CET)


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[rohrpost] <nettime> Raunig on Zizek on Haider [in German]


From: "Gerald Raunig" <raunig@igkultur.at>
To: <nettime-l@bbs.thing.net>
Date: Thu, 10 Feb 2000 16:35:52 +0100


S¸þstoff, Zucker, Antwortvielfalt
Politik im und nach dem Zeitalter des Postpolitischen
Replik auf Slavoj Zizeks nettime-Kurzessay


"Politische Wahlm–glichkeiten solcher Art - etwa zwischen Sozialdemokraten
und Christdemokraten in Deutschland, zwischen Demokraten und Republikanern
in den USA - m¸ssen uns ja geradezu an jenes Dilemma erinnern, vor dem wir
stehen, wenn wir im CafÈ nach S¸þstoff fragen: Ðberall k–nnen wir zwischen
Natreen und Saccharin w”hlen, zwischen blauen und roten T¸tchen, und fast
jeder hat die eine oder andere Vorliebe; und ¸berall betont dieses
l”cherliche Festhalten an der eigenen Vorliebe nur die v–llige
Bedeutungslosigkeit der Alternative." (Slavoj Zizek in: Die freie Wahl
zwischen blauen und roten T¸tchen. Warum wir es lieben, Haider zu hassen)



Hier am phantasierten Zentrum der Kaffeekultur, hier in Wien bedient man
sich noch immer des Zuckers. Nicht immer freiwillig, aber nahezu ohne
Alternative. Du bestellst eine Melange mit S¸þstoff; serviert wird ein
Kaffee mit Zucker. Du urgierst, du h”ttest S¸þstoff bestellt; die Antwort
ist: "Ja, bitte vielmals um Entschuldigung, bring ich gleich". Nach
weiteren f¸nf Minuten beeilst du dich, den Zucker in deinen Kaffee zu
werfen, damit er - diesmal nicht wegen des Zuckerersatzes, sondern wegen
der zunehmenden Abnahme der W”rme - nicht ungenieþbar wird. Das ist, ich
schw–r's, kein Einzelfall: In vielf”ltigen empirischen Versuchen ist es
mir und vielen Freunden gelungen nachzuweisen, daþ, soviel S¸þstoff auch
bestellt wird, fast immer nur Zucker serviert wird.

Es gibt Menschen, die die Grundlage dieses Ph”nomens in der Struktur der
Denkschemata von professionellen KellnerInnen suchen, welche angeblich das
Wort "S¸þstoff", oder das hier gebr”uchliche Synonym "Kandisin" nicht in
ihrem "Programm" haben, wie z.B. "Melange", "kleiner Brauner","Sachertorte
oder ”hnliches. Das sei in der jahrhundertelangen Tradition der
Kaffeeh”user einfach ein biþchen zu progressiv. Andere meinen wiederum,
daþ es eine gefinkelte kleinkapitalistische und suchtmittelverbreitende
Taktik sei, bei der Bestellung von "Verl”ngerten" automatisch - und auch
gegen die Regeln der Zubereitung der Wiener Melange - Schlagobers beif¸gen
zu m¸ssen, bei der Bestellung von Kandisin automatisch Zucker. Das wolle
der Kunde so, weil er seine Erf¸llung jenseits der vorgeschriebenen Moden
der spartanischen Zur¸ckhaltung doch im s¸þen Gl¸ck suche.

So sicher wie die KellnerInnen in ÷sterreich mir den Kaffee als
Zwangsmaþnahme nur mit Zucker servieren, und auch davon ausgehen, daþ das
dem unbewuþten Subcode der Bestellung des Kunden entspricht, so f¸hrt die
intellektuelle Herbeiw¸nscherei der "Wende" zwangsl”ufig zu einem
conservative turn, zur Macht¸bernahme der Rechtsextremen unter der
beschwichtigenden Decke mit den Christlich-Sozialen und damit erst zur
wahren Wahllosigkeit. In ÷sterreich haben ¸ber Monate vor und nach den
Nationalratswahlen Medien und f¸hrende Intellektuelle die Wende
getrommelt.  Schnell verschwamm die Kritik an den unglaublichen, aber
realen Ausformungen der sozialpartnerschaftlich dominierten Koalition der
Mitte mit dem Herbeireden einer "Erneuerung", die aufgrund der
Kr”fteverh”ltnisse des –sterreichischen Parteiensystems groteskerweise nur
eine konservative Restauration sein konnte. Denn schon vor den Wahlen war
klar: Da es kaum Chancen f¸r eine Mehrheit links der Mitte gibt, war die
Alternative zur alten SP÷/÷VP-Koalition schlicht und einfach eine
Regierungsbeteiligung der rechtsextremen FP÷. Prompt werden die f¸r sich
schon ohnehin fragw¸rdigen Aussagen der Philosophen-Dandies Rudolf Burger
und Konrad Paul Liessmann (s.u.a. die Kontroverse in der Tageszeitung "Der
Standard" nach den Nationalratswahlen, z.B. Liessmann, "Die
Intellektuellen und ihr Volk", 30.  10.und gettoattack: "Prinzip der
Schuldumkehr, 4.11., http://www.derstandard.at/) nun vom neuen
Kunststaatssekret”r Morak (÷VP)  aufgegriffen und massiv zu einer Apologie
f¸r sein Zusammengehen mit einer Partei verwendet, deren Chef er noch f¸nf
Jahre zuvor mit einem deftigen "Raus mit Haider aus ÷sterreich!" bedacht
hatte.

Die Pointe Zizeks trifft f¸r ÷sterreich also erstens ¸berhaupt nicht mehr
zu. Es gibt keinen Pluralismus von einander sehr ”hnlichen M–glichkeiten
mehr, eine angeblich bedeutungslose Alternative zwischen blauen und roten
Sackerln, sondern - sp”testens aufgrund der Festlegung eines
christlich-sozialen Parteichefs - nur eine einzige Variante: die taktisch
motivierte "Normalisierung" der rechtsextremen FP÷ durch die
christlich-soziale ÷VP. Was soviel heiþt wie: Selbst und gerade wenn ich
noch so stark gegen Natreen, Saccharin und deren ann”hernde
Ununterscheidbarkeit auftrete, ich entkomme dem Zucker nicht: die FP÷ ist
an der Regierung, ÷sterreich die Avantgarde Europas, die die Exklusion der
extremen Rechten aus den Regierungen aufhebt und damit den Dammbruch zu
ungekannten Formen politischen Extremismus in Europa verursacht.  Zweitens
ist auch aus der Erfahrung in ÷sterreich wieder einmal zu lernen, daþ das
kulturelle Feld als die gesellschaftliche Entwicklung begleitender
kritischer Diskurs ”uþerst leicht Gefahr l”uft, in eine affirmative Rolle
innerhalb von Sch¸ben der politischen Restauration zu schl¸pfen, auch und
wohl haupts”chlich wegen der zunehmenden Homogenisierung der
Medienlandschaften und einer steigenden Skandalisierungstendenz im
integrierten Spektakel, das die Funktion der Intellektuellen auf die von
plakativen StichwortgeberInnen zu dezimieren tendiert.

Und dennoch und da es nun mal so ist: wie jeder miþlichen Lage sind auch
dieser Situation als Krise die M–glichkeitsbedingungen f¸r etwas Besseres
immanent. Im Gegensatz der von Zizek zu Recht kritisierten und
beschworenen klebrigen Mitte eines Zweiparteiensystems (mit Auswirkungen
bis in zivilgesellschaftliche Bereiche) kann sich aus der Polarisierung
nicht nur eine neue Position der Sozialdemokratie jenseits der
neoliberalen Konzepte des "Dritten Wegs" entwickeln: Noch viel wichtiger
wird sein, daþ sich ein neues - post-postpolitisches - System von
vielf”ltigen Antagonismen ausbildet, deren Verhandlung umso m–glicher
wird, soweit die Restbest”nde zivilgesellschaftlicher Organisation nicht
durch kontrollgesellschaftliche Mechanismen zerrieben werden. Und das ist
auch hier in ÷sterreich noch l”ngst nicht soweit. Wir sind nicht
zuckers¸chtig, h–chstens 27 Prozent!

antagonism versus populism!
support the austrian resistance actions
http://www.t0.or.at/gettoattack
http://www.servus.at/kanal/gegenschwarzblau


Gerald Raunig


PS. Ich entschuldige mich bei allen KellnerInnen ÷sterreichs f¸r die
literarisch zugespitzten Pauschalverurteilungen.

---
sektor3/kultur.
Eine Konferenz der IG Kultur ÷sterreich zu den zivilgesellschaftlichen
Facetten des kulturellen Feldes.
31. M”rz bis 2. April 2000
Wien, Kunsthalle Exnergasse/WUK
Infos in K¸rze auf
http://www.igkultur.at
Tel: +43 1 503 71 20


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